Andrea Nahles hat ihren politischen Überlebenskampf nach dem Desaster bei der Europawahl verloren. Nach einer Woche gibt sie sich ihren Gegnern in der SPD geschlagen. Neben der Zukunft der Partei steht jetzt auch die der Regierungskoalition auf dem Spiel.
Eine Woche nach dem historischen Debakel der SPD bei der Europawahl hat Andrea Nahles ihren Rücktritt als Partei- und Fraktionschefin angekündigt. "Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist", schrieb Nahles am Sonntag an alle SPD-Mitglieder. Wer ihr nachfolgt, ist noch unklar. Die Parteispitze wollte am Nachmittag zu einer Krisensitzung zusammenkommen.
Nahles' Rückzug bringt auch die GroKo ins Wanken
Der Machtwechsel in der SPD könnte auch die große Koalition ins Wanken bringen. CDU-Chefin
Sie gehe davon aus, dass die SPD die nun notwendigen Personalentscheidungen zügig treffen werde "und die Handlungsfähigkeit der großen Koalition nicht beeinträchtigt wird", sagte Kramp-Karrenbauer am Sonntag. Für die CDU gelte: "Dies ist nicht die Stunde für Parteitaktische Überlegungen. Wir stehen weiter zur großen Koalition."
Auch Kanzlerin äußert sich zum Nahles-Aus
Bundeskanzlerin
In Sachen Regierungsarbeit schloss sie sich ihrer Vorrednerin Annegret Kramp-Karrenbauer an: "Für die Regierung will ich sagen: Wir werden die Regierungsarbeit fortsetzen mit aller Ernsthaftigkeit und vor allem mit Verantwortungsbewusstsein."
Nahles hatte am Morgen Rücktritt von ihren Ämtern bekanntgegeben
Nahles hatte an Morgen in einem Brief an alle SPD-Mitglieder geschrieben, sie werde an diesem Montag im Parteivorstand ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende und am Dienstag in der Fraktionssitzung ihren Rücktritt als Vorsitzende der SPD-Bundestagsabgeordneten erklären. "Damit möchte ich die Möglichkeit eröffnen, dass in beiden Funktionen in geordneter Weise die Nachfolge geregelt werden kann." Nahles wird auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich damit voraussichtlich komplett aus der Bundespolitik zurückziehen.
Die SPD hatte bei der Europawahl mit 15,8 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl eingefahren und war von den Grünen erstmals als zweitstärkste Kraft abgelöst worden. Zudem gab sie bei der Landtagswahl in Bremen nach 73 Jahren ihre Spitzenposition ab. In der ersten Umfrage zur Bundestagswahl nach dem schwarzen Wahlsonntag stürzte die SPD am Wochenende noch weiter ab: von 17 auf 12 Prozent im Vergleich zur Vorwoche (Forsa für RTL und n-tv).
Nahles wollte schon vor Rücktritt Machtfrage stellen
Nahles hatte nach den Wahlschlappen angekündigt, in der Fraktion mit einer vorgezogenen Vorsitzenden-Neuwahl die Machtfrage zu stellen. Bei einer Sonderfraktionssitzung am Mittwoch war dann deutlich geworden, dass sie für diesen Schritt wenig Rückhalt hatte.
Die 48-Jährige war nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl 2017 Fraktionsvorsitzende geworden und im April 2018 als erste Frau an die Spitze der SPD gewählt worden. Sie hatte sich dafür eingesetzt, nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine "Jamaika-Koalition" von Union, Grünen und FDP wieder in eine große Koalition einzutreten. Die Entscheidung ist in der Partei bis heute höchst umstritten.
"Wir haben uns gemeinsam entschieden, als Teil der Bundesregierung Verantwortung für unser Land zu tragen", schrieb Nahles jetzt an die Mitglieder. "Gleichzeitig arbeiten wir daran, die Partei wieder aufzurichten und die Bürgerinnen und Bürger mit neuen Inhalten zu überzeugen." Beides zu schaffen, sei eine große Herausforderung. "Um sie zu meistern ist volle gegenseitige Unterstützung gefragt." Ob sie die nötige Unterstützung habe, sei in den letzten Wochen wiederholt öffentlich in Zweifel gezogen worden. "Deshalb wollte ich Klarheit. Diese Klarheit habe ich in dieser Woche bekommen."
Mehrere Namen als Nachfolger von Nahles im Gespräch
Als mögliche Nachfolger von Nahles an der Parteispitze wurden bisher vor allem die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, und der niedersächsische Regierungschef Stephan Weil gehandelt. Auch Vizekanzler Olaf Scholz könnte jetzt wieder ins Spiel kommen. Als möglicher Kandidat für den Fraktionsvorsitz gilt der bisherige Vizechef Achim Post. Der SPD-Linke Matthias Miersch und Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz hatten noch vor der Rücktrittsankündigung erklärt, nicht gegen Nahles antreten zu wollen - was nicht automatisch bedeutet, dass sie eine Kandidatur grundsätzlich ausschließen.
Wann genau der Machtwechsel in Fraktion und Partei erfolgt, ist noch unklar. Eine Neuwahl in der Fraktion könnte schon am Dienstag erfolgen. In der Partei ist es komplizierter. Der nächste Parteitag ist für Dezember geplant. Sollte der Wechsel früher vollzogen werden, wäre dafür ein Sonderparteitag notwendig. Auch eine Mitgliederabstimmung über die Nahles-Nachfolge wurde ins Gespräch gebracht.
Malu Dreyer als mögliche Übergangslösung im Gespräch
Denkbar ist, dass es - wie schon in früheren Fällen - zunächst eine Übergangslösung gibt. Die "Bild"-Zeitung berichtete, die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer könnte den Parteivorsitz kommissarisch übernehmen.
Über den Zeitpunkt für die Rückgabe ihres Bundestagsmandats wolle Nahles zunächst mit ihrer Landesgruppe im Bundestag und ihrem Landesverband in der Partei beraten, hieß es in ihrem Umfeld. Kurz vor ihrer Entscheidung hatte sie noch demonstrative Rückendeckung von ihren Stellvertretern im Parteivorstand bekommen. Auch das konnte sie aber nicht mehr von ihrer Entscheidung abhalten.
Union appelliert an die SPD
Welche Auswirkungen der Rücktritt Nahles' auf die große Koalition haben wird, ist noch unklar. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner appellierte an das Verantwortungsbewusstsein der Sozialdemokraten. "Wir Christdemokraten sind und bleiben vertragstreu", sagte sie der "Saarbrücker Zeitung" (Sonntag). Sie erwarte, dass nach der Nahles-Ankündigung auch die SPD ein verlässlicher Regierungspartner bleibe "und das Land und die Herausforderungen in den Vordergrund stellt".
Am Abend (18:00 Uhr) wollte der CDU-Vorstand zu einer zweitägigen Klausur zusammenkommen, um unter anderem über die Konsequenzen aus den Wahlergebnissen zu beraten. (mgb/dpa)
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