• Angela Merkel hat im Bundestag eindringlich für einen schärferen Lockdown im Kampf gegen die Corona-Pandemie plädiert.
  • In einer flammenden Rede warb die Kanzlerin für weitergehende Beschränkungen noch vor Weihnachten.
  • Die AfD rechnete mit der Corona-Politik der Bundesregierung ab.

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Gut 26 Minuten lang referiert die Kanzlerin nüchtern über die hohen Schulden in Corona-Zeiten, die Maßnahmen gegen die Pandemie, den Systemwettbewerb mit China, die Belastung der Ärzte und Pfleger. Doch dann setzt Angela Merkel vor den Abgeordneten im Bundestag zum furiosen Endspurt an: Gut zehn Minuten ringt sie um Zustimmung zu ihrem Kurs noch schärferer Kontaktbeschränkungen zu Weihnachten, in den Schulen. Merkel mahnt, bittet, erklärt. Schon häufiger hat sich die Kanzlerin in den vergangenen Corona-Monaten im Parlament emotional geäußert - doch so vehement wie an diesem Mittwoch ist sie selten geworden.

Die Merkel-Minuten sind der Höhepunkt der sogenannten Generalaussprache über Merkels Haushalt - der Termin gilt eigentlich als Stunde der Opposition im Parlament. Doch bei manch anderen Reden aus den Reihen von Koalition und Opposition rührt sich heute kaum eine Hand aus den eigenen Reihen zum Applaus. Bei etlichen Auftritten blitzt ein Hauch von Vorwahlkampf auf vor dem Superwahljahr 2021.

AfD-Fraktionschefin Weidel: Merkel spaltet die Gesellschaft

Zu Beginn rechnet AfD-Fraktionschefin Alice Weidel erwartbar mit der Corona-Politik und der Regierungszeit Merkels ab: "Sie sind es, Frau Bundeskanzlerin, die dieses Land und diese Gesellschaft spalten." Die Kanzlerin lässt die Philippika an sich vorüberziehen, blickt stoisch auf ihr Handy. Soll die Oppositionsführerin ja nicht denken, dass sie mit diesen Angriffen Eindruck hinterlässt.

Erst eine gute halbe Stunde später, Merkel hat da schon ausführlich über die aktuelle Lage und den bevorstehenden EU-Gipfel berichtet, lässt sich die Kanzlerin dann doch ein wenig aus der Reserve locken. Gerade hat sie die jüngsten Fall- und Opferzahlen der Pandemie aufgelistet. Die Folgerung heiße: "Die Zahl der Kontakte ist zu hoch. Die Reduktion der Kontakte ist nicht ausreichend."

Kanzlerin kontert Einwand der AfD

Als ihr aus den AfD-Reihen ein "nicht erwiesen" entgegengerufen wird, folgt ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Vernunft: "Ich glaube an die Kraft der Aufklärung", ruft Merkel da. Sie habe sich in der DDR für ein Physikstudium entschieden, "weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten nicht". Die Kraft der Fakten und Zahlen - das ist Merkels stärkstes Argument.

Fast beschwörend sagt die Kanzlerin: "Weil die Zahlen so sind, wie sie sind, müssen wir etwas tun - und zwar Bund und Länder gemeinsam." Es waren die Ministerpräsidenten, über die sich Merkel in den vergangenen Wochen so geärgert hat, weil diese ihren Anti-Corona-Kurs von noch größeren Beschränkungen etwa in den Schulen ausgebremst hatten. "Wir können es nur gemeinsam machen", appelliert die Kanzlerin nun an die Länderregierungschefs, mit ihr an einem Strang zu ziehen.

Merkel kritisiert Ministerpräsidenten der Länder

Zwei Seitenhiebe auf die Länder kann sich Merkel dann aber doch nicht verkneifen: "Ich halte die Öffnung von Hotels für die Übernachtung von Verwandten für falsch, weil sie wieder Anreize schafft, die vielleicht nicht notwendig sind." Und sie halte es auch für richtig, die Schulen in dieser Zeit entweder durch eine Verlängerung der Ferien bis zum 10. Januar zu schließen oder aber Digitalunterricht einzuführen. "Oder was auch immer, das ist egal: Wir brauchen aber Kontaktreduzierung." Bei beiden Punkten hatten die Ministerpräsidenten in den vergangenen Wochen nicht mitgezogen.

Sie wisse ja, wieviel Liebe dahinter stecke, wenn Glühweinstände und Waffelbäckereien aufgebaut würden, "es tut mir wirklich im Herzen leid", zeigt Merkel nun Verständnis. Aber wenn man dafür den Preis zahle, dass es am Tag 590 Tote gebe, "ist das nicht akzeptabel". Und "wenn die Wissenschaft uns geradezu anfleht, vor Weihnachten, bevor man Oma und Opa, und Großeltern und ältere Menschen sieht, eine Woche der Kontaktreduzierung zu ermöglichen", dann solle man auch darüber nochmal nachdenken. Auch das geht in Richtung Ministerpräsidenten.

FDP-Chef Lindner beruhigt die Gemüter

Fast überschlägt sich Merkels Stimme, als sie ins Plenum ruft: "Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis mal sagen, wenn wir nicht in der Lage waren, für diese drei Tage noch irgendeine Lösung zu finden." Und: "Wenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und anschließend es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben." Da ist im hohen Haus sogar ein Ansatz von rhythmischem Klatschen zu hören.

Als dann FDP-Partei- und Fraktionschef Christian Lindner ans Pult tritt, ist schnell wieder parlamentarische Routine angesagt. Nur als er am Ende seiner Rede sagt, das Land brauche eine Offensive zur Entfesselung von Kreativität und Dynamik, zieht selbst Merkel kurz die Augenbrauen hoch und nickt.

Mützenich kritisiert Brinkhaus - Baerbock lobt Kanzlerin Merkel

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich kann sich später einen Seitenhieb auf seinen Unions-Kollegen Ralph Brinkhaus (CDU) nicht verkneifen. Der hatte kürzlich mit der Äußerung Furore gemacht, die Länder sollten doch bitteschön auch einen finanziellen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten. Man solle die staatlichen Ebenen doch nicht gegeneinander ausspielen, warnt Mützenich nun. Brinkhaus revanchiert sich später mit der spitzen Bemerkung, angesichts der Zahl von mehr als 500 Toten in der Corona-Pandemie sei "die eine oder anderer (...) Parteitagsrede" in der Debatte unangemessen gewesen.

Lediglich beim Auftritt von Grünen-Chefin Annalena Baerbock tippt Merkel nicht dauernd auf ihr Handy und hört häufiger hin. Statt sich in der Corona-Politik an den Egoisten abzuarbeiten, solle man lieber jenen Respekt zollen, die solidarisch seien, sagt Baerbock etwa. Direkt spricht sie Merkel an und lobt, dass die Kanzlerin so eindringlich appelliert habe, dass es in den nächsten Wochen nicht so weitergehen könne: "Wir können durch diese Pandemie nicht weiter mit einem Zwei-Wochen-Rhythmus-Bekämpfungssystem kommen." Damit dürfte Baerbock auch einen Nerv von Merkel getroffen haben. (mt/dpa)

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