Ursula von der Leyen ist seit Dezember im wichtigsten Amt der EU: Als erste Frau sitzt sie im Chefsessel der Europäischen Kommission. Doch kaum im Amt, überschattet die Coronakrise ihre Vorhaben. Konnte die CDU-Politikerin trotzdem punkten? Politikwissenschaftlerin Claudia Wiesner erklärt, warum von der Leyen trotz viel Kritik am Ende doch ein "Befriedigend plus" bekommt.
Bereits ihr Start als europäische Kommissionschefin verlief nicht reibungslos: Nur mit einer knappen Mehrheit wurde
Dabei hatte sie gerade große Probleme als Verteidigungsministerin hinter sich gelassen: Berater-Affäre, horrende Kosten beim Segelschulschiff "Gorch Fock", und immer wieder Diskussionen über marodes Bundeswehrmaterial. In der EU aber dann ein ähnliches Bild: Probleme an allen Ecken und Enden.
Von der Leyen mit "vielen Baustellen"
"Ursula von der Leyen hat ziemlich viele Baustellen vorgefunden", urteilt auch Politikwissenschaftlerin Claudia Wiesner von der Hochschule Fulda.
Flüchtlingsproblematik, Brexit, dann der Streit mit der Türkei über das gemeinsame Abkommen. "Nach weniger als 100 Tagen Amtszeit kam dann auch noch die Coronakrise hinzu. Bis dahin blieb ihr nur Zeit einzusteigen und sich einen Überblick zu verschaffen", analysiert Wiesner.
"Präsidentin auf verlorenem Posten"?
Nichtsdestotrotz, die CDU-Politikerin steht scharf in der Kritik: Eine "Präsidentin auf verlorenem Posten" wird sie von der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" genannt. Sie schreibt: "In der Corona-Krise wirkte sie zunächst abwesend" und: Als in den italienischen Krankenhäusern "bereits das Grauen herrschte, hielt sie Anfang März eine Pressekonferenz voll Selbstlob der ersten 100 Tage ihrer Amtszeit für angebracht."
Expertin Wiesner teilt die Einschätzung, erinnert aber: "Die EU ist in diesem Politikbereich nicht zuständig - das ist nicht zu verwechseln mit einer Schwäche der EU." Ausgangssperren und die gesundheitliche Kontrolle der Bevölkerung seien innenpolitische Fragen, die in die Souveränität von Nationalstaaten fielen. "Das heißt aber trotzdem nicht, dass sich von der Leyen jetzt zurückhalten sollte", sagt Wiesner.
Marshall-Plan: Namen nicht verdient
Einen "Marshall-Plan für Europa" forderte die EU-Politikerin Anfang April, spricht sich aber gegen Corona-Bonds aus. Die EU zog bislang zum einen die ESM-Karte, machte den Europäischen Stabilitätsmechanismus zum Mittel der Wahl für Staatshilfen.
Man könne nun zwar unter weniger harten Bedingungen auf den Euro-Rettungsschirm zugreifen als zuvor, dennoch greife dieser noch immer in die Souveränität der Mitgliedsstaaten ein. Hinzu kommen Garantien für Unternehmenskredite durch die Europäische Investitionsbank und ein EU-Kurzarbeiterprogramm.
"Zusammen haben diese Maßnahmen ein Volumen von 540 Mrd. Euro. Zum Vergleich: die deutschen Corona-Maßnahmen insgesamt belaufen sich inklusive der Staatsgarantien auf 819,7 Milliarden Euro." Wiesners Urteil lautet deshalb: "Besser als gar nichts - aber nicht der große Wurf."
Den Namen "Marshall-Plan" haben die bisherigen Maßnahmen in ihren Augen nicht verdient. "Von der Leyen ergreift die Möglichkeit, die die Pandemie als größte Krise nach dem zweiten Weltkrieg bietet, nicht. Sie hätte sich federführend an die Spitze eines ökonomischen Wiederaufbauprogramms und einer Stärkung der EU stellen können", so Wiesner.
In ihrer Handlungsfähigkeit gehandicapt
Doch die Expertin erinnert auch: "Von der Leyen kann nicht einfach Corona-Bonds beschließen. Das muss der Rat tun - und vor allem Deutschland sperrt sich hier." Ein Problem, mit dem von der Leyen seit Beginn ihrer Amtszeit zu kämpfen hat: "Sie braucht den Rat hinter sich und muss deshalb oft den kleinsten gemeinsamen Nenner finden", sagt die Expertin.
Die EU sei derzeit in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt, denn es gebe große interne Differenzen zwischen den Mitgliedsländern. "Viele aktuelle Vorhaben müssen mit Einstimmigkeit durch den europäischen Rat - für notorische Querschläger wie Ungarn und Polen eine Chance zu sperren", so Wiesner weiter.
Die Kommission versuche die unterschiedlichen Interessen zwar zusammenzubinden, damit könne man aber eben nicht viel nach vorne treiben.
Kritik für Konfliktscheue
Beispiel: Die Flüchtlingsproblematik. Während Länder wie Deutschland, Frankreich, Niederlande Luxemburg bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, weigert sich Ungarn konsequent. Die Situation an den griechischen Außengrenzen hat sich unter von der Leyen deshalb nicht verbessert.
Jens Geier, Chef der SPD-Abgeordneten im EU-Parlament, kritisierte gegenüber der "Augsburger Allgemeinen" die "Untätigkeit der EU in der Migrationspolitik" und sagte: "Da darf die Kommissionspräsidentin nicht nur mit dem Hubschrauber herumfliegen und markige Sprüche klopfen."
Wiesner kommentiert: "Natürlich hat sie hier Junckers Altlasten übernommen, das entschuldigt aber nicht, dass zu wenig passiert."
Was aber müsste Ursula von der Leyen tun? Die österreichische "Presse" schreibt: "Ursula von der Leyen meidet an der Spitze der Kommission jeden Konflikt. Damit schwächt sie sich selbst und gefährdet das europäische Einigungswerk."
Sollte von der Leyen also aktiv den Konflikt suchen? Wiesner dazu: "Ob sie wirklich Konflikt meidet, können wir nicht beurteilen, aber es scheint nach außen zumindest so."
Zeugnis für von der Leyen: "Drei Plus"
Die Politikwissenschaftlerin vermutet: "Ich glaube von der Leyen wartet ab und lotet ihren Handlungsspielraum aus." Gerade in Sachen Rechtsstaatlichkeit fordert aber auch die Expertin eine härtere Position der Kommission. "Das ist insbesondere gegenüber Staaten wie Ungarn und Polen nötig, die wiederholt und massiv Mindeststandards der Demokratie verletzten und damit Europa-Recht brechen."
Wiesner kommentiert: "Als Hüterin der Verträge muss die EU hier konsequenter reagieren. Wer sich nicht an die Regeln eines Clubs hält, kann kein Mitglied sein."
Doch die Expertin kann auch nachvollziehen, dass von der Leyen sich gut überlegt, welche zusätzlichen Konflikte sie jetzt aufmacht. "Es herrscht große Zerstrittenheit, die Zahl der Rechtspopulisten im Parlament ist gestiegen und gerade hat die EU ein Mitgliedsland verloren", erinnert Wiesner.
Das Zeugnis, dass sie von der Leyen ausstellen würde, käme am Ende trotz aller Kritik auf eine "Drei Plus". Wiesner erklärt, wieso: "Ursula von der Leyen ist sehr qualifiziert und kompetent. Sie nimmt sich große Dinge vor und so wird sie auch von europäischen Politikern wahrgenommen", so Wiesner.
Ihre Initiativen gingen in die richtige Richtung - nur nicht weit genug. "Zu den Vorschlägen muss jetzt noch Entschlussfreude, mehr Klarheit und weniger Konfliktscheue hinzukommen", fordert Wiesner.
Lob für Green New Deal
Dass die Kommissionspräsidentin dazu in der Lage ist, hat mit einem Vorhaben bereits unter Beweis gestellt: Mit dem Green New Deal, der eine Trendwende in der Klimapolitik bringen soll. Eine Billion Euro soll die EU demnach bis 2030 zusätzlich investieren, um bis 2050 klimaneutral zu werden.
Das ambitionierte Ziel legte von der Leyen immerhin elf Tage nach Amtsantritt vor. "Das ist auf jeden Fall meilenweit besser als das Klimapaket der Bundesregierung", kommentierte der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold im "Bayerischen Rundfunk".
Auf von der Leyens Konto geht auch der Anstoß zur Debatte über künstliche Intelligenz, ein neuer Plan zur Gleichberechtigung, eine neue Industriestrategie sowie eine Reform der EU Erweiterung. An der Wahrnehmung all dessen muss von der Leyen aber noch arbeiten - dazu hat die Kommissionspräsidentin allerdings auch noch über 1.600 Tage Zeit.
Verwendete Quellen:
- Augsburger-Allgemeine.de: Wie Ursula von der Leyen in 100 Tagen Europa verändert hat
- DiePresse.com: Bunkerstimmung in Brüssel, eine Präsidentin auf verlorenem Posten
- BR.de: Giegold: Meilenweit besser als Klimapaket der Bundesregierung
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