Mit Boris Johnson könnte ein Politiker in Downing Street 10 einziehen, der die Ablehnung politischer Regeln zum Konzept gemacht hat. Profiliert hat sich Johnson mit Humor und Beharrlichkeit. Doch besonders für die Liberalen könnte er ein Hoffnungsträger werden.

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Wenige Stunden nachdem Theresa May am 24. Mai ihren Rücktritt als Parteivorsitzende der Tories verkündet und damit ihrer Karriere als Premierministerin ein Ende gesetzt hatte, wandte sich Boris Johnson mit vergifteten Worten an das Volk:

Boris Johnson: kalkulierte Frechheit

"Ein würdiges Statement von Theresa May. Vielen Dank für Ihren stoischen Dienst an unserem Land und der konservativen Partei. Jetzt ist es an der Zeit, ihrem Drängen zu folgen: Zusammenkommen und den Brexit liefern", schrieb er auf Twitter.

Ein typischer Boris eben, bei dem man doppelt lesen muss, um zu verstehen, was gemeint ist. War es nicht Johnson selbst, der seit Monaten am Stuhl seiner Parteivorsitzenden gesägt und seit über drei Jahren vor allem eines nicht getan hatte: die Briten zusammenführen?

Viele sagen, es ist diese kalkulierte Frechheit und das Ignorieren jeder politischen Korrektheit, die Boris Johnson zu dem "real character" machen, für den ihn die Briten lieben.

Johnson mit unzähligen Skandalen

Denn "Bums Boris", so sein Spitzname, hat es geschafft, in einem Land, in dem Politiker verschlissen werden wie die Reifen von Formel-1-Boliden, unzählige Skandale, Verfehlungen und sogar den Brexit zu überleben.

Wer ist der Mann, der dafür mit dem Einzug in Downing Street 10, den traditionellen Amtssitz des Premiers, belohnt werden könnte?

Geboren wird Alexander de Boris Pfeffel Johnson 1964 in New York als erstes von vier Kindern in eine politische Familie. Sein Vater war fünf Jahre lang Abgeordneter für die Konservativen im EU-Parlament, sein Urgroßvater Ali Kemal sogar der letzte Innenminister des Osmanischen Reiches.

Johnson studiert an der Eliteuniversität Oxford und leitet die ehrwürdige Oxford Union, einen Debattierzirkel, der als Kaderschmiede für die Elite des Landes gilt. Seiner Karriere als Politiker dienlich ist vor allem die Mitgliedschaft im Bullingdon Club.

In Oxford bereitete Johnson seine Karriere vor

Bullingdon ist ein elitärer Bund junger Studenten, die in Frack, mit Messingknöpfen und Seidenrevers, ihre Grenzen austesten - und manchmal darüber hinaus gehen. Ehemalige Mitglieder berichten von Alkoholexzessen und Gewaltausbrüchen, zur Legendenbildung dürfte auch der Film "The Riot Club" beigetragen haben.

Fest steht: Im Bullingdon Club legt Johnson den Grundstein für seine spätere politische Laufbahn und schmiedet Seilschaften mit dem späteren Premierminister David Cameron und dem einflussreichen Schatzkanzler George Osborne.

Johnson will nach seinem Abschluss Journalist werden – doch das geht zunächst schief. Weil er ein Zitat fälscht, entlässt ihn sein erster Arbeitgeber, die renommierte "Times". Er wechselt zum "Daily Telegraph", für den er aus Brüssel berichtet und Kolumnen schreibt, die in der Regel mit Ironie durchtränkt sind.

Es ist der erste Schritt auf dem Weg zum Kult um Boris Johnson, denn für die Häme, mit der er die EU Woche für Woche überzieht, wird er in seiner Heimat gefeiert. Schon als Journalist betreibt er Politik, ohne formell Politiker zu sein.

Boris Johnson ab 2008 Londoner Bürgermeister

2008 ändert sich das: Johnson wird überraschend Bürgermeister von London, einer Stadt, die vornehmlich links steht. Die Londoner wählen ihn für seine erfrischend witzigen Statements, die er zuhauf in abendlichen Fernsehsendungen oder im Radio zum Besten gibt.

Mit Behauptungen wie: "Ich glaube, man wollte mir einmal Kokain anbieten, aber ich musste nießen, sodass es nicht in meine Nase ging. Es könnte aber auch gefrorener Zucker gewesen sein", bringt er selbst die liberale Mitte auf seine Seite, die ihm anfangs skeptisch gegenübersteht.

Der Fernsehmoderator Jeremy Clarkson bringt die Boris-Methode einmal auf den Punkt. "Die meisten Politiker", eröffnet Clarkson ein Interview mit Johnson, "sind ziemlich inkompetent und legen dann eine dünne Schicht an Kompetenz auf. Sie scheinen das andersherum zu machen."

Johnson antwortet trocken: "Sie können nicht die Möglichkeit ausschließen, dass hinter der sorgfältig konstruierten Fassade eines Vollidioten auch ein Vollidiot lauert."

Ein beliebter Bürgermeister

Medienwirksam fährt Johnson jeden Tag mit dem Fahrrad ins Rathaus und führt die sogenannten "Boris Bikes" ein – hässliche Zweiräder mit drei Gängen, die an 10.000 Stationen in der Stadt gemietet werden können und sich extremer Popularität erfreuen.

Nebenbei schreibt er weiter für den "Daily Telegraph" – und kassiert für seine Zeilen 250.000 Pfund im Jahr. Doch nicht alles läuft glatt. Johnson verspätet sich oft bei Terminen und löst bei den olympischen Spielen in London einen Eklat aus, weil er im aufgeknöpften Schlabberjackett auftritt. Die Briten verzeihen es ihm – und spendieren ihm eine zweite Amtszeit.

Bei der Parlamentswahl 2015 schafft Johnson den Sprung ins britische Parlament und inszeniert sich als Brexit-Hardliner. Er veranstaltet eine regelrechte Tournee durch das Land und verspricht den Briten, ein Brexit brächte ihnen nur Vorteile.

Johnson wird zum Brexit-Hardliner

In großen Lettern lässt er auf einen Bus schreiben, Großbritannien könne durch einen Brexit 350 Millionen Pfund pro Woche sparen. Das ist schlicht falsch, aber es kommt an. Der EU wirft er vor, einen "europäischen Super-Staat" errichten zu wollen.

Das Echo auf seine Aussage, "Napoleon, Hitler, diverse Leute haben das versucht, und es endete tragisch", ist verheerend. Doch er hat Erfolg: Die Briten stimmen für den Brexit.

Ob Johnson damals wirklich von einem Brexit überzeugt war, ist umstritten. Menschen, die ihn kennen und meinen, er wechsele seine Überzeugungen öfter als seine Unterwäsche, glauben eher an ein Komplott gegen Premierminister David Cameron.

So schreibt Craig Oliver, Kommunikationschef von Cameron, in seinem Buch "Unleashing Demons: The Inside Story of Brexit", Johnson habe seine Meinung innerhalb von 24 Stunden drei Mal geändert, bevor er sich der "Leave"-Kampagne angeschlossen habe.

Erst neun Minuten vor einem Fernsehauftritt sei die endgültige Entscheidung gefallen. Dass Johnson am Tag nach dem Brexit vor den Augen der Kameras tatsächlich erschüttert wirkte, unterstützt diese Aussage.

Brexit: Johnson zündelt – und wird belohnt

Während Cameron den Brexit politisch nicht überlebt, wird Johnson – ausgerechnet – mit dem Job des Chefdiplomaten belohnt: Die neue Premierministerin Theresa May macht ihn zum Außenminister.

Bei seinen europäischen Kollegen ist er verhasst. Sein damaliger französischer Amtskollege Jean-Marc Ayrault sagt öffentlich, Johnson habe die Briten über den Brexit angelogen – ein in der Diplomatie beispielloser Vorgang.

Im Gegenzug vergleicht Johnson dessen Chef, den damaligen französischen Präsidenten Francois Hollande, mit einem sadistischen Wachmann in einem Kriegsgefangenenlager im Zweiten Weltkrieg.

Wenig später blamiert sich Johnson, indem er auf einen Scherzanrufer hereinfällt, der sich als armenischer Ministerpräsident ausgibt und mit dem er sich ausführlich über die Probleme der Russlandpolitik austauscht. So währt Johnsons Amtszeit nur kurz, nach knapp zwei Jahren tritt er zurück. Grund dafür ist der Streit um den Brexit innerhalb der britischen Regierung. In Johnsons Rücktrittsschreiben heißt es: "Der Brexit-Traum stirbt, erstickt von unnötigen Selbstzweifeln."

Dass Johnson seitdem an seinem Aufstieg an die Regierungsspitze Großbritanniens tüftelt, daran besteht kein Zweifel. Wohlwollende Kommentatoren trauen ihm sogar zu, die systemverdrossenen Briten zu versöhnen.

Johnson gegen Burka-Verbot

Zwar bringt Johnson insbesondere die liberalen Briten mit seinem Pro-Brexit-Kurs gegen sich auf, doch ein illiberaler Politiker ist er nicht. So spricht er sich mehrmals gegen ein Verbot von Burka und Nikab in der Öffentlichkeit aus.

In der Brexit-Frage könnte es ihm nun gelingen, aufgrund seines harten Kurses weggelaufene Tory-Wähler zurückzuerobern, die sich vom Schlingerkurs Theresa Mays verraten fühlen.

Dass er seine Chance dafür bekommt, ist wahrscheinlich: Die Umfragen innerhalb seiner eigenen Partei führt er mit weitem Vorsprung an, und auch die Sponsoren sind ihm gewogen. Es wäre der späte Triumph des Mannes, der bislang die Maxime ausgab: "Meine Chancen, Premierminister zu werden, sind so gut, wie Elvis auf dem Mars zu finden oder als Olive wiedergeboren zu werden."

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