Als politische Partei, die "Anhänger und Wähler in allen Bevölkerungsschichten hat" definiert die Bundeszentrale für politische Bildung den Begriff "Volkspartei". Die Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg machen es fraglich, ob es Volksparteien im klassischen Sinn überhaupt noch gibt. Übernimmt bald die AfD diesen Part?
Gerade noch 7,7 Prozent der Wähler haben in Sachsen ihre Stimme der SPD gegeben. In Brandenburg konnte die CDU noch 15,6 Prozent erreichen. Beide Parteien, die sich seit der Nachkriegszeit als Volksparteien definiert haben, verlieren drastisch Wähler.
Im Gegensatz dazu gewinnt die AfD: 27,5 Prozent bekam sie in Sachsen, 23,5 Prozent in Brandenburg, so die vorläufigen amtlichen Endergebnisse. Wir haben mit dem Münchner Politikwissenschaftler und -berater Prof. Werner Weidenfeld gesprochen.
Herr Professor Weidenfeld, geht die Geschichte der Volksparteien in Deutschland zu Ende?
Prof. Werner Weidenfeld: Die Volkspartei gehört zur deutschen Parteiengeschichte und damit zur Geschichte der Bundesrepublik. Sie hat eine Schlüsselrolle gespielt für die Entwicklung der politischen Machtstrukturen in Deutschland. Aber so etwas muss nicht für alle Ewigkeit unverändert bleiben.
Den Begriff Volkspartei halte ich mittlerweile für nicht mehr adäquat. Volksparteien sind stabile politische Gruppen, die sich mit stabilen politischen Bindungen im Machtkampf fixiert haben. Das gibt es nicht mehr.
Wie definieren Sie dann die heutigen politischen Parteien?
Heute haben wir fluide Stimmungsmilieu-Parteien: Keine der Parteien, auch nicht die AfD, kann davon ausgehen, dass übermorgen alles noch so ist wie heute.
Auch die AfD könnte übermorgen wieder verschwunden sein?
Die Verhältnisse sind nicht mehr so, dass man das voraussagen könnte. In früheren Zeiten wäre die AfD längst aus der Politik verschwunden. Der AfD-Gründer Bernd Lucke hat die Partei verlassen, berühmte Mitglieder wie Olaf Henkel sind ausgetreten, haben andere Parteien gegründet.
Einflussreiche Mitglieder wie Frauke Petry sind weg vom Fenster. Technisch hat sich die Partei über einen langen Zeitraum hinweg zerlegt - aber die Wirkung dieser Vorgänge auf die Wähler ist gleich Null.
Was ist an den heutigen Parteien anders als früher?
Ich habe schon vor Jahrzehnten meine ersten Studien zur Parteiengeschichte gemacht - das war damals in Nordrhein-Westfalen. Als ich in der SPD nach gesellschaftspolitischen Themen gefragt habe, haben die mich zu den Gewerkschaften geschickt - die hätten die richtigen Antworten.
Und als ich in der CDU ähnliche Fragen gestellt habe, wurde ich an die Kirchen verwiesen. Solch eine gesellschaftliche Verankerung der Parteien gibt es heute nicht mehr. Das ist Geschichte - Ihre Fragen müssten Sie eigentlich einem Archäologen stellen.
"Polarisierung wird zunehmen und die AfD weiterhin profitieren, wenn ..."
Was könnten die ehemaligen Volksparteien tun, um diesen Prozess rückgängig zu machen?
Schauen Sie sich an, wie Willy Brandt das gemacht hat, damals, Ende der 60er Jahre: Mit großen Themen, mit "Wir wollen mehr Demokratie wagen", mit der Entspannungspolitik.
Heute binden die Parteien sich nicht mehr an große Programmatiken. Wenn die politischen Kräfte so weitermachen, wird die Polarisierung noch zunehmen und davon wird die AfD weiterhin profitieren. Die Traditionsparteien könnten die Richtung aber auch drehen, wenn talentierte Kräfte wieder eine größere Orientierung anbieten würden.
Die AfD hat mit der Migration eine Thematik aufgegriffen, die die Menschen bewegt. Ist sie auf dem Weg, eine Volkspartei zu werden?
Die Traditionsparteien haben sich immer stärker auf Fragen von situativem Krisenmanagement konzentriert und keine Perspektiven entwickelt. Sie lassen sich von Detail zu Detail treiben - aber mehr als 70 Prozent der Bürger sagen, sie verstehen das alles gar nicht. Aus diesem Frust ist die Rechtspartei so groß geworden. Aber nicht, weil sie selbst eine große Programmatik anbieten könnte.
"Einen großen programmatischen Rahmen bieten nur die Grünen"
Also keine Chancen mehr für eine neue Volkspartei?
Die einzige Partei, die einen größeren programmatischen Rahmen bietet, sind die Grünen. Sie hatten ihren Aufbruch in den 70ern mit revolutionärer, auch aggressiver Attacke für den Umweltschutz. Das Thema hat nach und nach die gesamte Gesellschaft erfasst, es gab programmatische Antworten auch aus den anderen Parteien, von der CDU zum Beispiel kam der Wahlspruch "Die Schöpfung bewahren".
Aber die Problematik wurde auch zum Thema von Kirchentagen. Die Partei hat seither viel dazugelernt. Schauen Sie sich das Führungspersonal der Grünen heute an - sie haben einen Stil entwickelt, der Wohlbefinden vermittelt, sie haben freundliche, immer lächelnde Leute, die sich ihre Kompetenzen zu Schlüsselthemen in einem langen Prozess erarbeitet haben. Das macht ihren Erfolg aus.
Das Thema ist also gut besetzt. Welche anderen Themen außer Migration und Ökologie könnten CDU und SPD aufgreifen, um wieder Fuß zu fassen?
Solche Fragen beantworte ich nicht spontan, die brauchen eine intensive professionelle Analyse und Bearbeitung. Aber es gibt Antworten und die Parteien können sie finden. Man kann den politischen Gegnern Themen auch wieder abnehmen.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zum Beispiel bemüht sich sehr, das Umweltthema zu übernehmen. Man muss sehen, wie lange er das konsequent durchhält. Söder hat das Problem erkannt, aber die Glaubwürdigkeit muss er sich erst noch erarbeiten. Es geht auch um die Frage, wie Menschen sich an politische Kräfte binden, in diesem Fall also, wie man sie dauerhaft zur CSU holt.
Kann man die Menschen auch wieder von der AfD wegholen?
Die AfD hat jetzt in Sachsen 18 Prozentpunkte dazugewonnen. Das nehmen die anderen Parteien gelassen, indem sie das Ergebnis mit zwei Wochen alten Umfragen vergleichen, in denen der Partei noch mehr Stimmen prognostiziert wurden. Da möchten sie eine positive Tendenz herauslesen.
Das ist sicherlich nicht die adäquate Reaktion. Die spannendste Frage ist derzeit: Wann wachen die Traditionsparteien auf? Die Traditionsparteien CDU und SPD haben es durchaus in der Hand, vieles zu korrigieren – wenn sie sich klar werden, welche Schuld sie am Aufkommen der AfD haben.
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