Vor über fünf Monaten entführte die Hamas 253 Menschen aus Israel. Einige Geiseln haben auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Wer sind sie und was ist über ihr Schicksal bekannt?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joshua Schultheis sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

In Israel wird der 7. Oktober 2023 der "Schwarze Schabbat" genannt. An diesem Samstag kamen hunderte Terroristen der radikalislamistischen Hamas aus dem Gazastreifen über die Grenze, ermordeten 1.139 Menschen, verletzten Tausende weitere und entführten 253 Personen. Seitdem herrscht wieder Krieg in Nahost.

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In Israel dominiert das Schicksal der Entführten die öffentliche Debatte. Ihre Gesichter und Namen sind dort omnipräsent. Weiterhin werden um die 100 von ihnen von der Hamas völkerrechtswidrig festgehalten – für mittlerweile über 170 Tage.

Früh stand fest, dass es unter den Geiseln auch einige mit einer deutschen Staatsbürgerschaft gibt. Die Bundesregierung sprach von acht Entführungsfällen "mit Bezug zu deutschen Staatsangehörigen", womit auch ganze Familien gemeint waren. In vielen Medien war daraufhin fälschlicherweise von acht deutschen Geiseln die Rede. Später wurde über teilweise bis zu 60 betroffenen Personen spekuliert.

Doch wie viele deutsche Entführte sind es genau?

Nach wie vor gibt das Auswärtige Amt keine exakten Zahlen preis oder äußert sich zu einzelnen Geiseln. Auf Anfrage unserer Redaktion erklärte jedoch eine Sprecherin des Ministeriums, "dass sich unter den von der Hamas verschleppten Personen immer noch eine niedrige zweistellige Anzahl von Personen mit Deutschlandbezug befindet".

Genauere Zahlen sowie die Namen der Betroffenen lassen sich jedoch gut rekonstruieren. Deutsche Behörden vermelden regelmäßig, wenn Geiseln mit deutscher Staatsangehörigkeit von der Hamas freigelassen oder sie offiziell für tot erklärt wurden. Zudem verschaffen sich die Angehörigen der Geiseln immer wieder in der deutschen und internationalen Presse Gehör. Aus ihren Aussagen kann man schließen, wer unter den mutmaßlich noch lebenden Geiseln einen deutschen Pass hat.

Trägt man all diese Informationen zusammen, kommt man auf 30 Personen, die am 7. Oktober entführt wurden und sehr wahrscheinlich neben einer israelischen auch eine deutsche Staatsangehörigkeit haben. Zwei weitere Geiseln haben zumindest enge familiäre Beziehungen zu Deutschen. Selbstverständlich ist nicht auszuschließen, dass sich später einige Angaben als falsch herausstellen werden oder es weitere bisher unbekannte Geiseln mit Deutschlandbezug gibt.

Von den 32 auf diese Weise identifizierten Personen wurden 14 freigelassen, sechs wurden offiziell für tot erklärt und zwölf weitere befinden sich nach wie vor in der Gewalt der Hamas. Hier sollen nun ihre Namen genannt und einige ihrer Schicksale exemplarisch wiedergegeben werden.

Welche Deutsch-Israelis wurden freigelassen?

Von den 253 am 7. Oktober entführten Menschen kamen 112 wieder frei, die meisten von ihnen während einer einwöchigen Feuerpause zwischen dem 24. und 30. November. Israel entließ mehrere hundert palästinensische Häftlinge aus seinen Gefängnissen im Austausch für die Geiseln.

Auf einer Solidaritätskundgebung am Brandenburger Tor in Berlin hält ein Teilnehmer das Foto von Yarden Roman-Gat hoch. © IMAGO/serienlicht/IMAGO

Am 29. November kam auch die Deutsch-Israelin Yarden Roman-Gat frei. Sie war zusammen mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter im Ort Be‘eri von der Hamas aufgegriffen worden. Während einer günstigen Gelegenheit konnte die Familie den Terroristen jedoch entkommen. In dem Wissen, dass sie selbst keine gute Läuferin ist, übergab Yarden ihrem Mann die gemeinsame Tochter. Während sich die beiden erfolgreich verstecken konnten, wurde Yarden kurze Zeit später von ihren Peinigern eingeholt und schließlich nach Gaza gebracht.

"Meine Entführer konnten es nicht lassen, mich als Trophäe zur Schau zu stellen", erzählt die 36-Jährige nach ihrer Freilassung in der US-Fernsehsendung "60 Minutes". Yarden kam unter dem Jubel zahlreicher Bewohner in Gaza an. Während die meisten Geiseln in das weit verzweigte Tunnelsystem der Hamas verschleppt wurden, brachte man sie in ein normales Haus. Yarden berichtet von permanenter Überwachung und einem Gefühl der absoluten Hilflosigkeit. "Ich war kein Mensch", sagt sie über ihre Behandlung durch die Entführer.

Zwei Tage vor Yarden wurden die deutsch-israelischen Brüder Or (16) und Yagil Yaakov (12) von der Hamas freigelassen. Ihr Onkel berichtete später in israelischen Medien von dem, was ihnen angetan wurde: "Die Hamas nahm das Bein eines jeden Kindes und hielt es an einen Motorrad-Auspuff." Die resultierenden Verbrennungen sollen einer leichteren Identifizierung im Falle einer Flucht gedient haben. Außerdem sollen Or und Yagil unter Drogen gesetzt worden sein. "Sie haben sie so schlecht behandelt", resümiert ihr Onkel. Der Vater der beiden Kinder wurde ebenfalls am 7. Oktober entführt. Israelische Behörden gehen mittlerweile davon aus, dass er nicht mehr am Leben ist.

Hier ist die Liste aller deutschen Staatsangehörigen, die aus der Geiselhaft entlassen wurden. Ihre Namen wurden größtenteils von deutscher Seite bestätigt. Das Alter ist in Klammern angegeben.

  1. Raz Asher (5)
  2. Aviv Asher (2)
  3. Raz Ben-Ami (57)
  4. Shoshan Haran (67)
  5. Doron Katz-Asher (34)
  6. Rimon Kirsht-Buchshtab (36)
  7. Margalit Moses (78)
  8. Yarden Roman-Gat (36)
  9. Amit Shani (16)
  10. Yael Neri Shoham (3)
  11. Naveh Shoham (8)
  12. Adi Shoham (38)
  13. Or Yaakov (16)
  14. Yagil Yaakov (12)

Welche Deutsch-Israelis wurden für tot erklärt?

Viele Angehörige bangten vergeblich um die Rückkehr ihrer Liebsten. Immer wieder mussten israelische Behörden den Tod einzelner Geiseln verkünden. Mit der Zeit wurde deutlich, dass einige der Entführten bereits am 7. Oktober ermordet worden waren. Die Hamas hatte ihre Leichen mitgenommen. Andere Geiseln kamen in den Wochen und Monaten danach ums Leben.

Wie genau, ist oft nicht zu klären. Die Hamas behauptete wiederholt, israelische Luftschläge seien für einige der Toten verantwortlich. Israel dementiert dies in der Regel. Sicher ist aber, dass drei Geiseln durch israelische Soldaten versehentlich erschossen wurden. Der Vorfall sorgte in Israel für Empörung.

Ricarda Louk bei einer Pressekonferenz im Oktober in Tel Aviv. Im Hintergrund sieht man ihre ermordete Tochter Shani. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS/Maya Alleruzzo

Insgesamt hat Israel den Tod von 44 Geiseln bestätigt. Die Armee nimmt bei mindestens 20 weiteren Entführten eine gewisse Wahrscheinlichkeit ihres Todes an. Bisher sind sechs Geiseln mit deutscher Staatsbürgerschaft offiziell für tot erklärt worden.

Eine von ihnen ist Shani Louk. Sie war am 7. Oktober auf einem Musik-Festival in der Nähe des Gazastreifens. Dutzende der jungen Feiernden wurde von der Hamas ermordet oder entführt. Die Terroristen filmten ihre Taten und verbreiteten sie im Internet. Eine Aufnahme zeigt den geschundenen, leblosen Körper der 22-jährigen Shani auf der Ladefläche eines weißen Pick-Ups.

Lange glaubte ihre Mutter, Ricarda Louk aus Ravensburg, ihr Kind sei noch am Leben. Unermüdlich appellierte sie an die deutschen und israelischen Behörden, alles für die Freilassung von Shani zu tun. Am 29. Oktober erhielt sie die Nachricht: Teile von Shanis Leiche wurden in Gaza gefunden. Wahrscheinlich ist die junge Frau bereits am 7. Oktober ermordet worden.

Auch der Deutsch-Israeli Itay Svirsky wurde von der Hamas entführt. Seine Familie konnte Hoffnung schöpfen, als die Terrororganisation ein Video von ihm veröffentlichte, das ihn lebend in Geiselhaft zeigte. Doch nur einen Tag später offenbarte die Hamas, dass Itay tot ist. Israel bestätigte seinen Tod. Wie dieser verursacht wurde, ist unklar. Es ist ein Beispiel von vielen für den psychologischen Terror, den die Hamas durch ihre Propaganda verbreitet.

Das sind die deutschen Staatsangehörigen, deren Tod offiziell bestätigt wurde:

  1. Tamir Adar (38)
  2. Itay Chen (19)
  3. Shay Levinson (19)
  4. Shani Louk (22)
  5. Itay Svirsky (38)
  6. Yair Yaakov (59)

Welche Deutsch-Israelis sind noch in Geiselhaft?

Es gibt keine eindeutige Gewissheit über die genaue Anzahl der noch lebenden Geiseln in Gaza. Zieht man die Freigelassenen und für tot Erklärten ab, kommt man jedoch auf 97 Personen.

Bei der Bestimmung der Anzahl von Geiseln mit deutscher Staatsbürgerschaft, die noch in der Gewalt der Hamas sind, gibt es ebenfalls große Hürden. Das Auswärtige Amt machte bisher immer nur konkretere Angaben zu denjenigen Deutschen, die freikamen oder offiziell als tot gelten. Klar ist nur: Es handelt sich um eine niedrige zweistellige Zahl.

Die Angehörigen der deutschen Geiseln erinnern jedoch unermüdlich an das Schicksal ihrer Verwandten. Aus ihren Aussagen lässt sich eine Liste von zehn Namen zusammenstellen, die sehr wahrscheinlich auch einen deutschen Pass haben. Mindestens zwei weitere Geiseln haben engen Deutschlandbezug. Das deckt sich mit den Angaben des deutschen Außenministeriums.

Das sind ihre Namen:

  1. Ohad Ben-Ami (55)
  2. Ziv Berman (26)
  3. Gali Berman (26)
  4. Shiri Bibas (32)
  5. Ariel Bibas (4)
  6. Kfir Bibas (1)
  7. Gadi Moses (79)
  8. Tamir Nimrodi (19)
  9. Arbel Yehoud (28)
  10. Dolev Yehoud (35)

Einen engen Deutschlandbezug haben außerdem diese Personen:

  1. Yagev Buchshtab (34), Ehemann der Deutsch-Israelin Rimon Kirsht-Buchshtab
  2. Carmel Gat (39), Schwägerin der Deutsch-Israelin Yarden Roman-Gat

Die Zwillinge Zvi und Gali Berman, beide 26 Jahre alt, haben familiäre Wurzeln in Deutschland. Hierher kam auch ihre Mutter Talia, um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, alles für die Freilassung ihrer Söhne zu unternehmen. Zvi und Gali wurden am 7. Oktober aus dem Ort Kfar Aza von der Hamas entführt. "Aus einem Ort des Friedens wurde ein Ort des Mordens, des Vergewaltigens und des Kidnappens", sagte Talia Berman während einer Veranstaltung in Augsburg Ende Januar. Freigelassene Geiseln berichten, die Zwillinge lebend in Gaza gesehen zu haben. Ihre Mutter hofft daher weiter auf ihre baldige Rückkehr.

Kfir Bibas verbachte seinen ersten Geburtstag in Geiselhaft. Ein Teilnehmer an einer Kundgebung in New York hält einen symbolischen Geburtstagskuchen in den Händen. © picture alliance / ZUMAPRESS.com/Lev Radin

Kfir Bibas ist die jüngste Person, die am 7. Oktober entführt wurde. Gerade einmal ein Jahr alt ist der Junge, der zusammen mit seinem Bruder Ariel (4) sowie seinen Eltern Shiri und Yarden Bibas nach Gaza verschleppt wurde. Kfirs Tante, Ofri Bibas, war im Januar als Teil einer Delegation von Angehörigen deutscher Geiseln in Deutschland. In einem Interview bei "Welt"-TV bestätigte sie, dass Kfir, Ariel und ihre Mutter Shiri auch deutsche Staatsangehörige sind.

Über das Schicksal der drei ist jedoch wenig bekannt. Als im November überwiegend Frauen und Kinder aus der Geiselhaft entlassen wurden, hofften die Angehörigen der Bibas-Familie vergeblich auf ihre Rückkehr. Die Hamas behauptete schließlich, die drei seien durch einen Luftschlag getötet worden. Die israelische Armee weist dies zurück.

Ofri Bibas misstraut den Aussagen der Hamas. Sie sagt: "Ich versuche daran zu glauben, dass sie noch am Leben sind."

Was wird getan, um die Geiseln freizubekommen?

Im Auswärtigen Amt gibt es einen Sonderstab für die von der Hamas entführten Menschen. "Dieser arbeitet weiter in Abstimmung mit unseren Partnern mit Hochdruck daran, die verbliebenen Geiseln so rasch wie möglich freizubekommen", heißt es auf Nachfrage beim Ministerium.

Doch die Einflussmöglichkeiten Deutschlands sind begrenzt. Viel entscheidender ist das Handeln der beiden Kriegsparteien. Bisher konnten drei Geiseln durch Aktionen des israelischen Militärs befreit werden. Die allermeisten kamen dagegen durch einen Deal mit der Hamas frei: Geiseln im Austausch gegen palästinensische Häftlinge sowie eine befristete Feuerpause.

Seit November ist es nicht mehr zu solch einer Vereinbarung gekommen. Doch die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas laufen weiter und stehen offenbar kurz vor einem Durchbruch: Laut israelischen Medienberichten will Israel auf zentrale Forderungen der Hamas eingehen. Teil des Deals soll die Freilassung von 40 weiteren Geiseln sein.

Ob es wirklich so weit kommt und ob darunter auch Deutschen sein würden, lässt sich derzeit kaum voraussagen. Doch für die Angehörigen ist die Aussicht auf einen neuen Geisel-Deal ein Anlass zu neuer Hoffnung.

Verwendete Quellen

  • Schriftliche Anfragen an das Auswärtige Amt sowie das "Hostages and Missing Families Forum"
  • "X"-Profile des Auswärtigen Amts, von Steffen Seibert, deutscher Botschafter in Israel, sowie Barak Ravid, israelischer Journalist (Stand: 25. März 2024)
  • Youtube-Video von "60 Minutes": Israeli hostage Yarden Roman-Gat shares details of her captivity in Gaza
  • welt.de: Geisel-Angehörige Ofri Bibas: "Kfir wird in ein paar Tagen ein Jahr alt"
  • haaretz.com: "They Were Drugged": Relatives of Freed Israeli Hostages Channel Hamas Captivity Horror
  • ausgburger-allgemeine.de: Mutter von Hamas-Geiseln in Augsburg: Wer rettet Ziv und Gali?
  • washingtonpost.com: How many hostages are still in Gaza since Hamas attack on Israel? What to know.
  • tagesschau.de: Baerbock auf Nahost-Reise: Acht Deutsche unter den Hamas-Geiseln
  • dw.com: Verzweifelt: Angehörige der Hamas-Geiseln in Brüssel
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