Ist es nicht langsam genug mit den vielen Arbeitskämpfen? Nein, findet DGB-Chefin Yasmin Fahimi. Ein Interview über Eingriffe in das Streikrecht, die Verantwortung der Gewerkschaften fürs Ganze und Konzepte gegen die Wirtschaftsflaute.

Deutschland wirkt wie lahmgelegt. Streiken die Lokführer einmal nicht, tut es das Bodenpersonal an Flughäfen oder die Mitarbeiter des öffentlichen Nahverkehrs. Wer in diesen Wochen reist, braucht starke Nerven. Nun fordern Politiker von CDU und FDP eine Einschränkung des Streikrechts in besonders sensiblen Bereichen.

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Nicht mit Yasmin Fahimi (SPD). "Wir werden keinen Millimeter nachgeben", sagt die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). "Eine Einschränkung des Streikrechts wäre eine Beschneidung der Tarifautonomie." Im Interview mit unserer Redaktion lässt Fahimi keinen Zweifel: Kampflos würde sie das nie zulassen.

Frau Fahimi, Deutschland erlebt gerade eine ungewohnte Streikwelle. Bekommen wir französische Verhältnisse?

Yasmin Fahimi: Bei Weitem nicht. Die Zahlen zeigen: Wir haben keine übermäßigen Streiks – weder aktuell hier in Deutschland noch im internationalen Vergleich. In Europa liegen wir im unteren Mittelfeld, hinter Frankreich und Italien, wo die Bereitschaft zum Streik viel ausgeprägter ist.

Es könnte also noch mehr gestreikt werden in Deutschland?

Mir geht es nicht um mehr oder weniger. Das ist keine Frage von Gutdünken. Es kommt zum Streik, wenn sich Tarifverhandlungen verheddert haben. Und wenn die Beschäftigten dem Streik am Ende auch zustimmen, weil sie überzeugt sind, dass es sich lohnt, gemeinsam Druck zu machen. Das entscheiden wir als Gewerkschaften nicht allein.

"Es gibt wieder ein stärkeres Bewusstsein, dass die eigenen Rechte bei der Arbeit, im Betrieb, nicht vom Himmel fallen. Dafür muss man etwas tun."

Yasmin Fahimi

Es entsteht der Eindruck, dass die Streikbereitschaft wächst.

Zumindest ist es so: Da, wo ein Streik ausgerufen wird, ist die Bereitschaft in der Belegschaft nicht nur sehr groß, dem zuzustimmen – sondern auch mitzumachen.

Woran liegt das?

Die Luft wird dünner. Alle Beschäftigten spüren die Inflation im Geldbeutel. Da hilft es, Druck zu machen, um Reallohnverluste auszugleichen. Und ich glaube, es gibt wieder ein stärkeres Bewusstsein, dass die eigenen Rechte bei der Arbeit, im Betrieb, nicht vom Himmel fallen. Dafür muss man etwas tun.

DGB-Chefin warnt vor Angriff auf Tarifautonomie

Nicht alle sind glücklich über die vielen Streiks. Es gibt Stimmen aus der Politik, die das Streikrecht einschränken wollen.

Das ist eine absolute Kampfansage an die Gewerkschaften und wir werden da keinen Millimeter nachgeben. Das Streikrecht ist ein in der Verfassung verankertes Grundrecht. Ich wundere mich, mit welcher Leichtigkeit einige jetzt darüber diskutieren. Und das nur auf der Basis gefühlter Fakten. Nochmal: Es gibt nicht mehr Streiktage in Deutschland als früher. Eine Einschränkung des Streikrechts wäre eine Beschneidung der Tarifautonomie – das können und werden wir nicht akzeptieren.

Auslöser der Debatte sind die GDL-Streiks. Und die Frage, ob nicht zumindest im Bereich der kritischen Infrastruktur, also etwa bei Gesundheit oder öffentlichen Verkehrsmitteln, schärfere Regeln für Arbeitskämpfe gelten sollten.

Auch der GDL-Streik ist 24 Stunden vorher angekündigt worden. Und da, wo es um Wohl und Wehe von Menschen geht, etwa in Krankenhäusern, gibt es strenge Auflagen, auch eine entsprechende Notfallversorgung sicherzustellen. Aus meiner Sicht ist das jetzt eine völlig aufgesetzte Debatte, in der es am Ende des Tages darum geht, das Streikrecht als solches infrage zu stellen. Dabei wird eines gerne übersehen.

Nämlich?

Wir haben in Deutschland ein sehr restriktives Streikrecht. Politische Streiks wie in Frankreich sind bei uns ausgeschlossen. Wenn jetzt also das Streikrecht infrage gestellt wird, ist das entweder reiner Populismus oder ein leichtfertiges Spiel mit Verfassungsrechten.

Die CDU-Mittelstandspolitikerin Gitta Connemann denkt laut über viertägige Ankündigungsfristen in bestimmten Bereichen nach.

Das kann nur jemand fordern, der von Tarifverhandlungen keine Ahnung hat. Und auch nicht von den Taktiken, die es dabei zu berücksichtigen gilt. Eine so lange Ankündigung ist unrealistisch, wenn sich Tarifverhandlungen bereits festgefahren haben und es das Ziel ist, den eigenen Forderungen nochmal unmittelbar Nachdruck zu verleihen. Der Streik muss dabei in einem vernünftigen zeitlichen Bezug zum Verhandlungsstand stehen.

Die konjunkturelle Lage ist trist. Müssen die Gewerkschaften ausgerechnet jetzt das Land lähmen?

Die Konjunktur wird nicht besser, wenn die Reallöhne sinken und die Binnennachfrage schwächer wird. Eine angemessene Lohnentwicklung ist auch in schweren Zeiten absolut relevant und ökonomisch vernünftig.

Lösungen finden, wenn Branchen unter Druck geraten

Auch die Gewerkschaften tragen Verantwortung für die volkswirtschaftliche Entwicklung.

Natürlich. Deswegen schauen wir uns in Tarifverhandlungen immer die jeweilige Branchensituation an. Und deswegen haben die meisten Tarifverträge auch sogenannte Öffnungsklauseln für Betriebe, die sich tatsächlich in einer schwierigen Lage befinden. Wahr ist aber auch: Die konjunkturelle Lage ist nicht überall gleich.

Wie meinen Sie das?

Es gibt Krisengewinner. Und gerade die großen DAX-Konzernen haben in den letzten beiden Jahren sehr erfolgreiche und profitable Geschäfte eingefahren. Auf der anderen Seite gibt es Branchen, die durch hohe Energiepreise stark unter Druck geraten sind. Da müssen die Tarifparteien spezifische Lösungen finden. Und das tun sie auch.

"Es gibt Unternehmen, die in der Krise enorme Gewinne erwirtschaftet haben oder sich zum Teil entschlossen haben, ohne Not Standorte zu schließen."

Yasmin Fahimi

Die deutsche Wirtschaft bewegt sich am Rand zur Rezession. Braucht es angesichts der Wachstumsschwäche ein Konjunkturpaket?

Ich plädiere dafür, zielgenau zu helfen und nicht ganz allgemein mit der Gießkanne Wohltaten zu verteilen. Wie gesagt: Es gibt Unternehmen, die in der Krise enorme Gewinne erwirtschaftet haben oder sich zum Teil entschlossen haben, ohne Not Standorte zu schließen – die sollten nicht auch noch mit allgemeinen Steuernachlässen beschenkt werden.

Energieintensive Industrie von Energiepreisen entlasten

Vor allem die FDP möchte Steuern senken. Was schlagen die Gewerkschaften vor?

Es wäre gut, Investitionen in Standorte durch Superabschreibungen oder Investitionsprämien zu begünstigen. Ebenso sinnvoll wäre es, den Unternehmen bei der zweifelsfrei notwendigen CO2-Einsparung einen größeren zeitlichen Spielraum zu geben. Auch das hilft kurzfristig. Und wir bleiben natürlich bei unserer Forderung, dass gerade die energieintensive Industrie deutlich von den hohen Energiepreisen entlastet werden muss. Hier entsteht sonst nicht nur eine Konjunkturdelle, sondern dauerhafter Schaden an der Substanz der Volkswirtschaft.

Stichwort Strom: Wie lassen sich die Kosten senken?

Schauen wir auf die Netzentgelte. Hier droht eine Preisexplosion in den nächsten Monaten und Jahren. Denn es muss in sehr kurzer Zeit enorm stark in den Ausbau der Netze investiert werden. Die Netzbetreiber legen diese hohen Investitionskosten dann direkt auf die Stromkunden um. Es wäre klug, die Netzentgelte nicht mehr allein über die Stromrechnung der Verbraucher, privat wie gewerblich, zu finanzieren, sondern dies steuerlich zu tun. Nur: Dafür müsste die Bundesregierung Geld in die Hand nehmen. Doch durch die Schuldenbremse lähmt sie sich selbst.

An anderer Stelle hat die Koalition Einigung erzielt – bei der Rente. Das Sicherungsniveau soll bei 48 Prozent festgeschrieben werden. Ihnen reicht das nicht, Sie fordern 50 Prozent. Wer soll das bezahlen?

Das bezahlen die Beitragszahler, die in die Rentenkasse einzahlen. Die Bundesregierung will das Rentenniveau in den nächsten 15 Jahren bei 48 Prozent festschreiben. Stabilität ist gut. Aber noch besser wäre das Versprechen, dass diese Stabilität für alle Generationen gilt. Also, dass alle dauerhaft den gleichen Leistungsanspruch haben, unabhängig vom Geburtsjahr. Das wäre auch ein wichtiges Signal für die Wirkungskraft des Generationenvertrags.

Nochmal: Wie steht es um die Finanzierung? Schon heute sind die Beiträge zur Rente hoch – und damit die Belastung für die Beschäftigten.

Nein, die Beiträge sind nicht besonders hoch. Es gibt Länder – schauen Sie nach Österreich –, da liegen sie deutlich höher und die Arbeitgeber zahlen mehr als die Hälfte ein. In Schweden ist das auch so und den Beschäftigten wird ihr Rentenbeitrag sogar vom Staat erstattet. Es gibt zwei Voraussetzungen für eine gute Rente: genügend Beitragszahler und angemessene Löhne. Nur: Wir haben eine Teilzeitquote von 38 Prozent in Deutschland. Und es fehlen an allen Ecken und Enden Fachkräfte. Hier müsste angesetzt werden.

Die Rente im Umlagesystem ist also besser als ihr Ruf?

Absolut. Es heißt doch seit Jahrzehnten schon, dass das System am Ende sei. Und was wurden vor 15 Jahren noch für Prognosen abgegeben, dass wir schon bald Beitragssätze von 25 Prozent und mehr haben werden. Nichts davon ist eingetreten. Vor allem, weil die Beschäftigungsentwicklung so positiv war. Wir haben ein sehr gutes, stabiles System. Das sollte ausgebaut werden. Was wir nicht brauchen, ist Spekulation am Finanzmarkt, wie es die Koalition durch das Generationenkapital plant.

DGB-Chefin Fahimi: Aktienrente ist ein Rohrkrepierer

Mit dem Generationenkapital will die Ampel den Anstieg des Beitragssatzes in der Rentenversicherung abdämpfen. Dafür soll über einen Fonds breit gestreut am Aktienmarkt investiert werden. In der Vergangenheit waren die Renditen hoch.

Das ist aber kein Automatismus. Ich halte außerdem die These für falsch, dass der Finanzmarkt stabiler ist als ein über die Gemeinschaft getragenes System. Das sehen Sie an vielen Beispielen: Seien es die Rentenfonds in den USA oder auch Norwegen, das mit seinem Staatsfonds in der Vergangenheit in Schwierigkeiten geraten ist – einfach, weil die Kapitalmärkte volatil und vom Zinsniveau abhängig sind. Anders als die gesetzliche Rente.

Es klingt gewagt, einzig auf die gesetzliche Rente zu vertrauen.

Ich habe nichts gegen eine zusätzliche Säule. Die gibt es bereits und die heißt betriebliche Altersvorsorge. Die kann und muss man stärken. Aber zu glauben, dass man ein beitragsfinanziertes Umlagesystem Stück für Stück in Richtung Aktienrente überführen kann, ist brandgefährlich. Ich sage Ihnen, wie das Generationenkapital enden wird: als Rohrkrepierer.

Was macht Sie da so sicher?

Eine einfache Rechnung: Die Ausschüttungen sollen in Zukunft bei etwa zehn Milliarden Euro jährlich liegen. Gleichzeitig steigt der staatliche Zuschuss für den Fonds jedes Jahr um drei Prozent an. Im Jahr 2045 wären es bereits 22 Milliarden Euro. Das heißt, Sie entnehmen zehn Milliarden und schießen 22 Milliarden nach. Das sind Mehrkosten und keine Stabilisierung. Und ehrlich gesagt: Das halte ich für absolut widersinnig.

Über unsere Gesprächspartnerin

  • Yasmin Fahimi ist 1967 in Hannover geboren. Die SPD-Politikerin saß von 2017 bis 2022 im Bundestag und war zwischen Januar 2014 und Dezember 2015 Generalsekretärin ihrer Partei. Seit über zwei Jahrzehnten ist Fahimi zudem als Gewerkschafterin aktiv, insbesondere in der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Am 9. Mai 2022 wurde sie zur Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes gewählt. Fahimi ist die erste Frau in diesem Amt.
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