Innenminister Thomas de Maizière gilt in der Öffentlichkeit derzeit als der Buhmann in der Flüchtlingskrise. Er sei überfordert und konterkariere mit unbedachten Äußerungen Angela Merkels "Wir schaffen das"-Devise, heißt es. Wir haben seine Aussagen einem Faktencheck unterzogen.

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1. Mit einer Gesamtzahl von 800.000 Flüchtlingen in diesem Jahr rechnete Innenminister Thomas de Maizière Mitte August, als die Bundesregierung die Prognose von zuvor 400.000 Schutz suchenden Menschen nach oben korrigierte. Inzwischen rechnen Experten nach einem Bericht der Deutschen Presse-Agentur mit 900.000 Flüchtlingen bis Jahresende und mit 600.000 im kommenden Jahr.

De Maizières Prognose wäre dann etwas zu knapp ausgefallen, der Innenminister hätte sich aber auch nicht fundamental verschätzt. In den Medien kursierten in den letzten Tagen allerdings auch Zahlen von bis zu 1,5 Millionen Menschen noch in diesem Jahr, deutlich mehr als in de Maizières Prognose. Diese Zahlen werden von der Bundesregierung allerdings entschieden dementiert.

2. "Wir nehmen jetzt 40 Prozent aller Flüchtlinge in der EU auf", sagte der Minister Ende August dem ZDF-"Morgenmagazin". Und weiter: "In diesem Jahr müssen und werden wir das verkraften. Auf Dauer allerdings sind 800.000 für ein solches Land wie Deutschland zu viel".

Die Zahlen stimmen, aber de Maizière verzichtet darauf, eine Rechnung aufzumachen, die die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge pro Einwohner darstellt. Dieses Verhältnis ist aber viel aussagekräftiger, da ein kleines Land wie Luxemburg wohl kaum dieselbe Zahl an Schutz suchenden Menschen aufnehmen kann wie zum Beispiel Frankreich. Richtig ist, dass Ungarn, Schweden und Österreich im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl mehr leisten als Deutschland, wie auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in der TV-Sendung "Anne Will" betonte.

3. Anfang Oktober erklärte de Maizière, dass die Bundesregierung in der Flüchtlingskrise eine Schließung der deutschen Grenzen erwogen habe: "Wir haben diese Frage erörtert - und verworfen. Es gibt europarechtliche Bedenken und faktische Begrenzungen, so etwas durchzusetzen."

De Maizière hat recht und liegt mit seiner Aussage auch auf Linie mit der Kanzlerin. Angela Merkel sagte bei Anne Will, dass es keinen Aufnahmestopp geben werde, weil es faktisch keine Möglichkeit gebe, Tausende Kilometer deutscher Außengrenze zu sichern. Die Menschen würden ohnehin kommen.

Europarechtlich würde eine dauerhafte Schließung der Grenzen gegen das Schengener Abkommen von 1985 verstoßen, in dem die Abschaffung der stationären Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zwischen den EU-Staaten geregelt ist. Deutschland könnte dann vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt werden.

4. "Sie gehen aus Einrichtungen raus, sie bestellen sich ein Taxi, haben erstaunlicherweise das Geld, um Hunderte von Kilometern durch Deutschland zu fahren. Sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt, sie prügeln in Asylbewerbereinrichtungen".

Mit diesen Aussagen überraschte der sonst eher für seine Besonnenheit bekannte Innenminister Anfang Oktober die Öffentlichkeit und zog viel Kritik auf sich. Zu Recht: De Maizière verallgemeinert und spricht von DEN Flüchtlingen als homogene Masse, statt von konkreten Einzelfällen, die es sicherlich gibt. Damit bestärkt de Maizière all jene, die ohnehin schon Ressentiments gegenüber den geflüchteten Menschen hegen.

Die Aussagen irritieren auch deshalb, weil de Maizière am 2. Oktober in den Medien noch mit der Aussage zitiert worden war, nur eine geringe Anzahl von Flüchtlingen sei "besonders auffällig".

5. "Es gibt kein Wahlrecht eines Asylbewerbers auf Wohnsitznahme in Deutschland", sagte de Maizière. Flüchtlinge würden sich zunehmend selbstständig auf die Reise zu unbekannten Zielen in Deutschland machen.

Mit der ersten Aussage hat der Innenmister recht. Das deutsche Asylrecht sieht eine Residenzpflicht für Menschen vor, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben und deren Verfahren noch läuft. Der Aufenthaltsbereich kann auf den Bezirk, den Kreis oder das Bundesland beschränkt sein - in diesem Gebiet muss der Antragsteller dann wohnen. Bei einem Verstoß drohen ihm Geldstrafen und im Wiederholungsfall auch Gefängnisstrafen. Wie viele Flüchtlinge sich wirklich illegal in Deutschland bewegen, darüber gibt es allerdings keine verlässlichen Zahlen.

6. Bereits Anfang Oktober warnte de Maizière vor einem ungebremsten Anstieg von Straftaten und Pöbeleien gegenüber Flüchtlingen und sprach zugleich vor einer "klammheimlichen Zustimmung" zu solchen Straftaten von Bürgern, die sich wegen der hohen Flüchtlingszahlen Sorgen machten.

Die jetzt veröffentlichten Zahlen geben de Maizière recht. Es gibt tatsächlich einen Anstieg der Straftaten gegen die nach Deutschland geflüchteten Menschen - und es ist seine Aufgabe als Innenminister, alles zu tun, um dieser Entwicklung entgegen zu wirken.

7. "Ungefähr 30 Prozent der Menschen, die jetzt kommen und behaupten, sie wären Syrer, sind aber keine", sagte der Innenminister in der Talkshow "Maybrit Illner" im September und wurde für diese Aussage immer wieder kritisiert.

Zu Recht, denn nach einer Recherche des ARD-Magazins "Panorama" gibt es keinerlei Belege für diese Zahlen. Im Gegenteil: Bei einem Besuch der Reporter in der Erstaufnahme-Einrichtung Friedland bei Göttingen zeigte sich, dass dort höchstens ein paar Einzelfälle bekannt sind, bei denen der Verdacht auf eine falsche Angabe des Heimatlandes besteht.

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