Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht, den Flüchtlingspakt mit der EU aufzukündigen. Angesichts von drei Millionen in der Türkei lebenden Flüchtlingen steigt die Sorge vor einer neuen Migrationswelle. Wie gut ist Europa auf dieses Szenario vorbereitet?

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Die Bilder aus dem Sommer und Herbst 2015 sind vielen Menschen noch präsent. Tausende, manchmal mehr als zehntausend Männer, Frauen und Kinder überquerten - meist zu Fuß - die deutsch-österreichische Grenze. Die Erfassung der Migranten war lückenhaft, die Zustände in den Unterkünften chaotisch, die Gewalt von rechts nahm sprungartig zu. Nun geht in Europa die Angst vor einer neuen Flüchtlingskrise um. Der Grund ist die wiederholte Drohung der Türkei, den Flüchtlingsdeal mit der EU zu kündigen.

Nach der im März 2016 geschlossenen Vereinbarung war die Zahl der Menschen, die die gefährliche Überfahrt von der Türkei nach Griechenland wagte, stark gesunken. Auch durch die Schließung der Balkanroute mittels Grenzbefestigungen nahm der Druck auf die bevorzugten Zielländer wie Deutschland und Schweden deutlich ab.

Zuspitzung in Griechenland, Destabilisierung auf dem Balkan

Sicherheitskreise in Südosteuropa warnen jedoch, dass sich die Flüchtlingszahlen nach Griechenland in den kommenden Wochen verdoppeln könnten. Schon seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei im Juli gab es einen Anstieg. Beobachter sind sicher: Kommt das Ende des Deals, wird sich dieser Trend fortsetzen.

Gerald Knaus, Gründer und Chef des Think Tanks Europäische Stabilitätsinitiative, befürchtet dramatische Folgen. Er rechnet mit einer Zuspitzung der Situation in Griechenland - aber nicht nur das. "Die Grenzen auf dem Balkan würden militarisiert, eine ohnehin fragile Region destabilisiert", sagte Knaus "Spiegel Online". In Serbien und Kroatien wird schon darüber nachgedacht, neue Zäune zu bauen. Denn anders als 2015 können die Flüchtlinge nicht einfach in staatlicher Regie nach Österreich und Deutschland weiter geleitet werden.

Knaus erwartet weitere politische Verwerfungen. "Ein Scheitern des Abkommens würde extremen Parteien in der ganzen EU einen enormen Aufschwung bescheren. Sie würden in Frankreich, Österreich und den Niederlanden 2017 womöglich Wahlen gewinnen."

Wie würden die Folgen für Deutschland aussehen?

Die Folgen für Deutschland sind ein Stück weit unabsehbar. "Ein Migrationsstrom lässt sich nie aufhalten, er verhält sich wie Wasser und bahnt sich seinen Weg", sagt Jörg Radek, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei im Gespräch mit unserer Redaktion. Schon jetzt sei ein Ausweichen "der Migranten von Österreich auf die deutschen Grenzen zur Schweiz, Frankreich und Belgien" feststellbar.

Laut Radek können nur deshalb geordnete Kontrollen an den deutschen Grenzen stattfinden, weil die "Bundespolizei eine ungeheuerliche Kraftanstrengung leistet und weil durch die Grenzziehung auf der ganzen Balkanroute eine geordnete Migration stattfindet."
Auch die Unterstützung von bis zu 225 deutschen Polizisten im Rahmen der EU-Mission "Frontex 2.0" an der Ägäis sei wichtig. "Wir sind an den deutschen Grenzen gut aufgestellt, wenn wir uns an den EU-Außengrenzen zeigen", betont der Polizeigewerkschafter.

Transitzonen sind "schwierig durchzuführen"

Doch was, wenn die Flüchtlingszahlen trotzdem zunehmen? In den Unionsparteien wird erneut über sogenannte Transitzonen gesprochen. Dort sollen Flüchtlinge erfasst, ins Land gelassen oder gegebenenfalls sofort zurückgewiesen werden. "Zu Transitzonen müsste zunächst eine Rechtsgrundlage geschaffen werden. Da gibt es noch keine Verständigung der Bundesregierung", sagt Radek.

Ohnehin sei so eine Zone an einer Landgrenze "rechtlich problematisch und polizeilich schwierig durchzuführen". Unabhängig davon fordert der GdP-Vize verstärkte Bemühungen bei Zurückweisungen an der Grenze.

Europaweit wird aktuell über die "australische Lösung" diskutiert, sollte es zum Bruch des Flüchtlingsdeals kommen. Flüchtlinge, die in Europa ankommen, sollen demnach auf einer Insel festgehalten werden. Ohne Recht, in der EU einen Asylantrag zu stellen. "Wenn Europa das macht, wäre es das Ende der Flüchtlingskonvention, eine Katastrophe. Griechenland würde die Rolle zugewiesen, die die Pazifikinsel Nauru für Australien spielt", moniert Gerald Knaus.

Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, Manfred Weber, fordert, Europa müsse selbst in der Lage sein, mit einer "möglicherweise veränderten Situation" fertig zu werden. "Dies bedeutet vor allem eine Verstärkung des Engagements in Drittländern, eine weitere Verbesserung des Außengrenzenschutzes, Hotspots mit größeren Kapazitäten an den EU-Außengrenzen und eine massive Beschleunigung der Rückführung von illegalen Migranten", sagt Weber.

Trotz der schwierigen See im November kamen allein von Samstag bis Sonntagmorgen 217 Flüchtlinge aus der Türkei auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios und Samos an. Ein lebensgefährliches Unterfangen. Sollte der Flüchtlingsdeal tatsächlich platzen, werden solche Meldungen wieder zunehmen. Ein schlechtes Szenario - für die Flüchtlinge und für die EU.

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