Um 20,3 Prozent ist die Clankriminalität in Nordrhein-Westfalen nach Regierungsangaben innerhalb eines Jahres gestiegen. Ralph Ghadban, einen der profiliertesten Clan-Forscher Deutschlands, überrascht dies nicht. Der im Libanon geborene Wissenschaftler, der seit 1962 in Deutschland lebt, kennt die Strukturen und Vorgehensweisen von kriminellen Clans wie kaum ein Zweiter.

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Mit Blick auf das neue Lagebild Clankriminalität des Landeskriminalamt NRW, das diese Woche veröffentlicht worden ist und das einen deutlichen Anstieg bei Clankriminalität im Vergleich zu 2021 zählt, bleibt Ghadban gelassen. "Das überrascht mich nicht. Wieso sollen die Zahlen zurückgehen?", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Straftaten mit Clanbezug seien überall angestiegen, wo sogenannte Lagebilder zu Clankriminalität erstellt werden, meint der 74-jährige Berliner. Also in Nordrhein-Westfalen, Bremen, Niedersachsen und vor allem Berlin.

Fehlende Integration und Diasporaeffekt

Hauptgrund dafür sei laut Ghadban, der selbst in Berlin lebt, die fehlende Integration der kriminellen Clanmitglieder. Hotspot NRW: Allein im vergangenen Jahr gab es fast 6.600 Straftaten mit Clanbezug in NRW – deutlich mehr als im Vorjahr. Die nordrhein-westfälische Polizei hat im vergangenen Jahr 20,3 Prozent mehr Straftaten mit Clanbezug als in 2021 gezählt. Das LKA hat für seine "namensbasierte Recherche" im aktuellen Lagebild 116 Clan-Namen identifiziert (2021: 113).

Für das Jahr 2022 wurden insgesamt 6.573 Straftaten und 4.035 Verdächtigte festgestellt. Im Vergleich zum Vorjahr stieg damit auch die Zahl der mutmaßlichen Täter um 11,2 Prozent. Die Verdächtigen sind laut Lagebild ganz überwiegend männlich (81,1 Prozent) und meistens zwischen 26 und 30 Jahre alt. Laut LKA sind mit 53,4 Prozent die meisten der Tatverdächtigen Deutsche.

Nur 16,7 Prozent haben die syrische und 13,6 Prozent die libanesische Staatsangehörigkeit. Rohheitsdelikte wie Raub oder Körperverletzung und Straftaten gegen die persönliche Freiheit machen nach Angaben des LKA 30,9 Prozent aller Taten aus. 14,9 Prozent waren Vermögens- und Fälschungsdelikte. Die Statistik zählt auch 24 "Straftaten gegen das Leben", darunter Mord und Totschlag, wobei Versuche mit dazu zählen. Wie viele Tote es tatsächlich gab, geht aus dem Lagepapier nicht hervor.

Bei all diesen Zahlen: Ist das bevölkerungsreichste Bundesland also die Hochburg der türkisch-arabischstämmigen Familienclans, die kriminell sind und vor denen sich wegen ihrer Brutalität große Teile der Bevölkerung fürchten?

Ghadban ordnet ein: "Die SPD regierte lange Zeit in diesen vier Bundesländern. Sie erließ einen Abschiebestopp für Asylbewerber. Folglich konnten Asylbewerber eine Duldung beantragen und wurden nicht, wie bei Asylverfahren sonst üblich, auf die 16 Bundesländer verteilt." Die Folge: der sogenannte Diasporaeffekt.

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Die vornehmlich aus dem Libanon kommenden Großfamilien, die mitunter vor dem libanesischen Bürgerkrieg der 1990iger Jahre einst flüchteten, blieben zusammen und vor allem unter sich. Hier liegt auch das Problem, der fehlenden Integration in die deutsche Gesellschaft. "Clansolidarität ist für diese Familien ein Vorteil in einer individualisierten Gesellschaft wie der unseren", sagt Ghadban.

Ghadban: "Wichtig ist es, die Clans zu sprengen"

Der Forscher sagt aber auch: "Der Prozentsatz an Clankriminellen und entsprechenden Straftaten ist in einem Bundesland mit mehr als 17 Millionen Einwohner natürlich höher." Bei allen Versuchen, die Kriminalität mit Clanbezug zu bekämpfen, wird die Integrationsarbeit seitens Behörden und Politiker oft vergessen. "Wichtig ist es, die Clans zu sprengen, damit eine individuelle Integration in unsere moderne Gesellschaft gelingt. Integration ist immer individuell." Auch wenn es Ghadban nicht direkt ausspricht: Bei der zielgerichteten Integration ist Sozialarbeit und aufeinander zu gehen wohl der Königsweg.

In NRW passiert aber durch die "Politik der 1.000 Nadelstiche" von NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) vor allem Repression und Sanktion. Reul punktet damit bei der verunsicherten Bevölkerung. Besonders bei jener, die die Auswüchse der Kriminalität unmittelbar miterleben, beispielsweise bei Massenschlägereien im Ruhrgebiet.

"Reuls Null-Toleranz-Politik ist notwendig und erfolgreich, weil sie die staatliche Kontrolle über den öffentlichen Raum wieder gewonnen hat und die Sicherheit der Bürger erhöht", sagt Ghadban, der berichtet, dass in Essen zuvor Clans der dortigen Polizei angeboten haben sollen, in Vierteln für Sicherheit zu sorgen.

Auch in Berlin soll es "No go-Areas" gegeben haben. Dass es überhaupt nach 2019 ein neues Lagebild gibt, ist nicht selbstverständlich: Der grüne Koalitionspartner der CDU in Düsseldorf hadert mit der Statistik, für die Polizeisysteme nach relevanten Clan-Namen durchforstet werden.

Über den Experten: Ralph Ghadban ist Islamwissenschaftler, Politologe und Publizist. Der 74 Jahre alte Ghadban wurde im Libanon geboren und kam in den 1960iger Jahren nach West-Berlin. 2006 und 2008 war er Mitglied in den beratenden Gremien der ersten Deutschen Islamkonferenz. 2008/09 forschte er am Institute for Advanced Study in Princeton, USA. Daneben erhielt er Lehraufträge an der Evangelischen Hochschule Berlin. Sein Buch "Arabische Clans – Die unterschätzte Gefahr" sorgte für viel Aufmerksamkeit.

Verwendete Quellen:

  • Polizei Nordrhein-Westfalen Landeskriminalamt: Clankriminalität - Lagebild NRW 2022
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