In Ankara hat sich in der vergangenen Woche (23. Oktober) ein Anschlag mit mindestens fünf Toten ereignet. Die PKK hat sich zu dem Anschlag bekannt. Dabei hatte sich die türkische Regierung gerade erst um eine Annäherung bemüht. Kommt diese Initiative nun völlig zum Erliegen? Historiker Rasim Marz erklärt, wo die Achillesverse der türkischen Außenpolitik liegt und welche Entwicklung die Türkei alarmiert hat.

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Nach dem Anschlag durch die PKK in der türkischen Hauptstadt Ankara hat die Debatte über den Umgang mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei in der Türkei neu an Fahrt aufgenommen. Am 23. Oktober war die Türkei in einem Außenbezirk von Ankara von einem Anschlag erschüttert worden. Bei dem Angriff auf die teilstaatliche Rüstungsfirma TUSAS waren mindestens fünf Menschen ums Leben gekommen, 22 weitere wurden verletzt.

Inzwischen hat sich die PKK zu dem Anschlag bekannt. Das berichtete die PKK-nahe Nachrichtenagentur ANF unter Berufung auf die HPG, den militärischen Arm der Organisation. Die PKK war in der Vergangenheit immer wieder für schwere Anschläge verantwortlich. Die türkische Regierung hatte die Angreifer, einen Mann und eine Frau, bereits zuvor als PKK-Mitglieder identifiziert.

Anschlag zu brisantem Zeitpunkt

TUSAS stellt unter anderem Drohnen her, die auch im Kampf gegen die PKK eingesetzt werden. Seit dem Anschlag fliegt die Türkei vermehrt Luftschläge im Nordirak und in Syrien. Das Hauptquartier der PKK liegt in den irakischen Kandil-Bergen, in Syrien bekämpft die Türkei vor allem die dortige Kurdenmiliz YPG, die sie als Ableger der PKK betrachtet. Auch die EU und die USA stufen die PKK, die seit den 1980er-Jahren gegen den türkischen Staat kämpft, als Terrororganisation ein.

Der jetzige Anschlag ereignet sich zu einem brisanten Zeitpunkt: Erst kurz zuvor hatten Präsident Erdogan und seine Regierungspartner von der ultranationalistischen MHP Schritte unternommen, um den Kurdenkonflikt zu lösen – und damit eine Debatte ausgelöst, die landesweit Wellen schlug.

Freilassung von PKK-Führer

MHP-Chef Devlet Bahceli hatte die Freilassung des PKK-Führers Abdullah Öcalan thematisiert und dies an eine Entwaffnung der Terrororganisation geknüpft. Erdogan zeigte sich offen für den Vorstoß. Die Nachricht kam überraschend, denn eigentlich gilt Bahceli als Hardliner in Sachen PKK-Politik. Öcalan sitzt seit 1999 in Isolationshaft. Vor wenigen Wochen wurde ihm erstmals seit Jahren wieder Besuch erlaubt.

"Bahceli hat angeregt, PKK-Führer Öcalan eine Plattform zu geben, um die PKK und ihre Ableger in Syrien und Irak zur Auflösung und freiwilliger Entwaffnung zu bewegen. Welche Vorteile Öcalan im Gegenzug dafür gewährt werden, bleibt weiterhin undefiniert. "Der Anschlag der kurdischen Terrororganisation PKK auf das Rüstungsunternehmen TUSAS mit fünf Toten hat hierbei der ganzen Thematik eine besondere Brisanz verliehen", sagt Rasim Marz.

Neuer Friedensprozess?

In ihrer Mitteilung deklarierte die HPG allerdings, der Anschlag sei lange geplant gewesen – unabhängig von der aktuellen politischen Diskussion. Beobachter hatten den Schritt der Regierung als Zeichen für einen potenziellen neuen Friedensprozess zwischen der Regierung und der PKK gedeutet.

Der letzte Versuch war 2015 gescheitert. Damals hatte Erdogan, ebenfalls kurz nach einem Anschlag, gesagt: "Es ist nicht möglich, einen Lösungsprozess fortzuführen mit denjenigen, die die Einheit und Integrität der Türkei untergraben." Die Türkei flog daraufhin wieder Luftangriffe gegen PKK-Stellungen, diese erklärte daraufhin den seit 2013 geltenden Waffenstillstand für beendet.

Kehrtwende in der PKK-Politik

Wieso reagiert Erdogan diesmal anders? Er selbst hatte erklärt, angesichts der Herausforderungen im Nahen Osten sei ein neuer politischer Ansatz nötig. "Dazu ist es unerlässlich, dass wir als Land und als Nation die vor uns liegenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme rasch lösen", so der türkische Präsident.

Marz schätzt: "Ziel der türkischen Regierung mit dieser Kehrtwende in der jahrzehntealten Kurdenpolitik ist die Wahrung eigener Sicherheitsinteressen im aktuellen Nahostkonflikt." Die gezielte Tötung der Führerschaft von Hamas und Hisbollah durch den israelischen Geheimdienst Mossad und die Destabilisierung der ganzen Region habe die Türkei alarmiert.

"Achillesverse türkischer Außenpolitik"

Rasim Marz

"Es folgten eine geheime Sondersitzung des Kabinetts und eine Erhöhung des Verteidigungsetats. Der Mossad unterhält seit vielen Jahren enge Verbindungen zur PKK und seinen Ablegern SDF und YPG, resultierend aus der amerikanisch-kurdischen Zusammenarbeit gegen den islamistischen Terrorismus", erklärt Rasim Marz.

Der kurdische Terror in der Türkei bilde die Achillesverse türkischer Außenpolitik, weshalb jetzt schnell nach neuen Lösungen gesucht werde, um eine Kooperation der Kurden mit Israel zu vermeiden, die den türkischen Ambitionen im Nahen Osten gefährlich werden könnten.

Marz ist skeptisch

"Der Kurdenkonflikt kann jedoch ohne große Zugeständnisse nicht per Dekret beendet werden", erinnert Marz. Dass der Anschlag die Initiative der türkischen Regierung völlig zum Erliegen bringt, glaubt der Experte nicht.

Den Erfolg der Bestrebungen hält er allerdings für begrenzt: "Ich glaube nicht, dass die PKK sich je dazu bereit erklären würde, die Waffen zu strecken", sagt Marz. Öcalan sei für viele Kurden zwar weiterhin eine Galionsfigur, habe aber faktisch keine Macht mehr. "Die Terrororganisation wird von jüngeren Kadern mit anderen Ansichten gesteuert", sagt er. Dass Öcalan die PKK zur Auflösung bewegen kann, scheint daher mehr als unwahrscheinlich.

Vertrauen nachhaltig beschädigt

Wie stark der Anschlag die politischen Diskussionen und Initiativen belastet, wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen. Nicht zuletzt hängt der Fortgang der Friedensbemühungen auch davon ab, wie stark der Druck aus der Öffentlichkeit auf die Regierung sein wird. Die Türkei ist über den Kurdenkonflikt tief gespalten.

Auch jetzt zeigte sich die unterschiedliche Lesart des Konflikts sehr anschaulich: Während die Türkei nach ihren Luftschlägen von getöteten Terroristen sprach, meldeten die Kurdenmilizen zahlreiche getötete Zivilisten. Das Vertrauen auf beiden Seiten ist in jedem Fall nachhaltig beschädigt. Eine Lösung des Konflikts wird daher eine Aufgabe von mehreren Jahren sein.

Über den Gesprächspartner

  • Rasim Marz ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische und osmanische Diplomatie des 19. Jahrhunderts sowie die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.

Verwendete Quellen

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