In ganz Europa sind jüdische Einrichtungen Ziel von Anschlägen, in Deutschland ist die Zahl der antisemitistischen Straftaten zuletzt deutlich gestiegen. Können Juden hier sicher leben? Wie groß ist ihr Gefühl der Bedrohung? Vertreter der jüdischen Gemeinde ziehen Bilanz.
"Ich fühle mich persönlich nicht bedroht", sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden bei einem Gespräch im Presseclub München. Und doch steht er seit seinem Amtsantritt im November 2014 unter Polizeischutz. Vier kräftige Sicherheitsleute begleiten ihn auch an diesem Abend.
Kaum eine jüdische Einrichtung in Deutschland kommt ohne hohe Sicherheitsvorkehrungen aus. 864 antisemitische Straftaten zählte die Amadeu Antonio Stiftung im vergangenen Jahr, dabei gab es 23 Verletzte. Die Zahl der Straftaten mit antisemitischem Hintergrund stieg im Vergleich zum Vorjahr um zehn Prozent.
Antisemitismus hat "verschiedene Erscheinungsformen"
Die Täter kommen zwar überwiegend aus der rechtsextremen Szene, in der Hass und Gewalt gegen Juden zum Weltbild gehören. Antisemitische Tendenzen sind aber auch in der Gesamtgesellschaft weit verbreitet. Jeder zehnte Deutsche stimmt Vorurteilen über Juden zu, zeigt eine aktuelle Mitte-Studie der Universität Leipzig. Nach einer Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem September 2014 glauben 18 Prozent der Deutschen, dass Juden an ihrer Verfolgung mitschuldig sind.
Nach Ansicht von Präsident Schuster werden judenfeindliche Meinungen heute offener geäußert als noch vor einigen Jahrzehnten - nach dem Motto "Man wird ja wohl noch sagen dürfen …". Auch Ansichten über die israelische Politik würden dazu als Vorwand benutzt. "Um nicht missverstanden zu werden: Kritik an der Regierung des Staates Israel ist absolut legitim", betont Schuster. "Problematisch ist für mich, wenn sich Israelkritik mit pauschalen Vorurteilen gegen Juden verbindet."
Antisemitismus sei "verbreiteter, als viele glauben", warnt auch Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, im Interview mit diesem Portal. "Er äußert sich täglich in irgendeiner Form und hat viele verschiedene Erscheinungsformen."
Islamistischer Terror bedroht europäische Juden
Knobloch spielt dabei auch auf den islamistischen Terror an. Die anti-jüdischen Anschläge von Brüssel, Paris und Kopenhagen haben "etwas in unserem Selbstverständnis geändert", meint sie. Das Gefühl, nicht toleriert zu werden und gefährdet zu sein, gehört plötzlich wieder zum jüdischen Alltag in Europa.
Nach den Terrorattacken auf "Charlie Hebdo" und einen jüdischen Supermarkt in Paris im Januar empfahl der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu den europäischen Juden dann auch die Ausreise nach Israel. Der Präsident des Zentralrates der Juden Schuster hatte im Februar in einem Interview dazu geraten, in manchen Vierteln mit hohem muslimischem Anteil keine Kippa zu tragen. Zu dieser Aussage stehe er noch heute, betonte er im Münchner Presseclub.
Knobloch sieht ebenfalls einen "wachsenden und radikaler werdenden Judenhass" unter den Muslimen in Deutschland - vor allem bei den jüngeren. Dieser Hass bedrohe aber nicht nur die Juden, ganz im Gegenteil: "Unsere westlichen freiheitlichen Demokratien sind bedroht, unser Lebenskonzept nach dem Motto 'leben und leben lassen'. Extremisten können das nicht akzeptieren und sind eine Gefahr für die gesamte freie Welt."
"Deutschland ist sichere Heimat für jüdische Menschen"
Gerade deswegen wünscht sie sich mehr Offenheit und mehr Ehrlichkeit gegenüber den bestehenden Missständen in Deutschland. Dies gelte eben nicht nur für den Antisemitismus: "Menschenverachtung ist in jeder Form eine Bedrohung für das liberale Gemeinweisen als solches", betont sie.
In der deutschen Politik und der Mehrheit der Gesellschaft nimmt Knobloch aber ein ausgeprägtes Geschichts- und Verantwortungsbewusstsein wahr. "Grundsätzlich ist Deutschland eine sehr gute und sichere Heimat für jüdische Menschen", lobt sie. Ihre Gemeinde fühle sich in der bayerischen Hauptstadt angekommen: "Hier in München erleben wir ein lebendiges Miteinander."
Ratspräsident Schuster würde gerne häufiger positive Themen vertreten, anstatt die Rolle des Mahners zu übernehmen. Das jüdische Leben sei mehr als "die Zeit zwischen 1933 bis 1945" und reiche sehr weit zurück in Deutschland. Eines Tages, hofft Schuster, soll Polizeischutz für den Präsidenten des Zentralrats der Juden dann auch nicht mehr nötig sein.
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