Die Angriffe gegen Asylbewerber und -heime haben im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Die Täter kommen vor allem aus dem rechtsextremen Spektrum. Rückenwind erhalten diese aber auch durch eine verschärfte Migrationsdebatte in der politischen Mitte, warnen Linken-Politikerin Clara Bünger und der Sprecher der Amadeu Antonio Stiftung, Robert Lüdecke.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joshua Schultheis sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die aus Afghanistan geflüchtete Familie sitzt gerade beim Abendessen, als aus dem Hausflur Lärm kommt. Jemand hat sich gewaltsam Zugang zu der Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Sebnitz verschafft. "Da waren vier Leute, zwei waren maskiert, zwei ohne Masken", berichtet der 12-jährige Achmed später dem "MDR".

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Videoaufnahmen zeigen: Die Angreifer sind mit Eisenstangen bewaffnet. Einer von ihnen trägt auf seinem T-Shirt die Reichsflagge und das Foto eines Wehrmachtssoldaten. "Mein großer Bruder wurde geschlagen und verletzt. Es war sehr schlimm", erzählt Achmed. Die Angreifer fliehen, als einige Nachbarn auf sie aufmerksam werden. Achmeds Wunsch: "Ich hoffe, die werden gefangen."

In den ersten drei Quartalen dieses Jahres gab es 1.515 Angriffe

Was sich an diesem Tag im Juli abgespielt hat, ist einer von zahlreichen Fällen von Gewalt gegen Geflüchtete in diesem Jahr. 1.515 Angriffe auf Asylbewerber sowie Flüchtlingsunterkünfte haben deutsche Behörden in den ersten drei Quartalen 2023 registriert. Die Taten werden überwiegend dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet. 2022 waren es dagegen im gesamten Jahr 1.371 Fälle. Ein Anstieg also, dessen Ausmaß noch ungewiss ist.

Die Zahlen, die diese Zunahme dokumentieren, stammen aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Clara Bünger (Die Linke) und ihrer Fraktion. "Dass Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, um hier Schutz zu suchen, so häufig Gewalt und Ausgrenzung erfahren, ist ein anhaltender Skandal", sagt Bünger auf Anfrage unserer Redaktion. "Bund und Länder müssen dringend geeignete Schutzkonzepte auf den Weg bringen."

Doch das reiche nicht, sagt die Juristin. "Ich rufe zudem Politiker:innen aller demokratischen Parteien dazu auf, ihre verbalen Angriffe auf das Recht auf Asyl und ihre Rufe nach immer neuen Asylrechtsverschärfungen umgehend zu beenden." Bünger glaubt, die immer schärfer geführte Asyldebatte bereite "den Boden für rassistische Mobilisierungen auf der Straße und Gewalttaten gegen Geflüchtete". Eine Mitschuld sieht sie auch bei der Ampel-Regierung, die sich an einer "beispiellosen Demontage der Rechte von Asylsuchenden" beteilige.

Die Regierung plant eine Verschärfung des Abschieberechts

Am Donnerstag wurde im Bundestag über das von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) eingebrachte Gesetz "zur Verbesserung der Rückführung" kontrovers diskutiert. Dieses sieht unter anderem eine Verlängerung der Höchstdauer des Ausreisegewahrsams sowie erweiterte Befugnisse für die Behörden zur Erleichterung von Abschiebungen vor. Kritik kam selbst aus einer Regierungsfraktion: Die Grünen-Abgeordnete Filiz Polat sieht in dem Gesetzentwurf Eingriffe in "elementare Grundrechte".

Für Faeser ist dies dagegen eine Maßnahme zur Stärkung des "gesellschaftlichen Rückhalts für die Aufnahme der geflüchteten Menschen in Deutschland", wie sie Ende Oktober sagte. "Wer kein Bleiberecht hat, muss unser Land wieder verlassen." Nach Vorstellung der SPD-Politikerin ist es also genau andersherum: Eine Verschärfung des Asylrechts soll die aufgeheizte Stimmung in der Gesellschaft beim Thema Migration wieder abkühlen.

Eine Umfrage des ARD-DeutschlandTrends vom Oktober ergab, dass die Migrationspolitik zu diesem Zeitpunkt für die Deutschen das mit Abstand wichtigste politische Thema war. Zur Wahrheit gehört auch: Von dem Ausmaß der ausländerfeindlichen Gewalt im Jahr 2016, dem Höhepunkt der Fluchtbewegung aus dem Bürgerkriegsland Syrien, ist Deutschland derzeit weit entfernt. Damals wurden 3.533 Angriffe auf Asylbewerber beziehungsweise ihre Unterkünfte gezählt.

Robert Lüdecke: "Das stößt in das Horn der Rechtsextremen"

Robert Lüdecke sieht darin keinen Grund zur Entwarnung. Im Gegenteil: "Wir sehen derzeit im Schnitt fünf gegen Geflüchtete gerichtete Vorfälle am Tag", sagt der Sprecher der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) im Gespräch mit unserer Redaktion. "Es ist zu befürchten, dass dieser Trend weiter anhalten wird." Die AAS macht unter anderem Bildungsarbeit über Rassismus und fördert Initiativen von Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzen.

Für Lüdecke kommt die Gewaltzunahme gegen Asylbewerber wenig überraschend. Auch er sieht in der verschärften Asyldebatte ein Problem: "Die Rufe nach mehr Abschiebungen und dichten Grenzen stoßen in das Horn der Rechtsextremen." Nach dem Abklingen der Coronapandemie stehe auch am äußersten rechten Rand das Thema Migration noch stärker im Fokus als zuvor. Was nach Lüdeckes Beobachtung dabei anders ist als zuvor: Selbst in der politischen Mitte werde derzeit Gewalt gegen Geflüchtete weniger deutlich thematisiert und geächtet. "Das gibt den Tätern das Gefühl, sie könnten straffrei handeln."

Der AAS-Sprecher ist enttäuscht, wie wenig Konsequenzen der Staat aus der Gewaltzunahme gegen Geflüchtete zieht: "Was machen die Behörden mit diesen Zahlen? Werden Schutzkonzepte entwickelt? Wird überprüft, ob Geflüchtete an bestimmten Orten überhaupt sicher sind, bevor dort eine Unterkunft errichtet wird?" Antworten liefere die Regierung derzeit keine, sagt Lüdecke. Auch auf eine entsprechende Anfrage unserer Redaktion reagierte das Bundesinnenministerium bisher nicht.

Robert Lüdecke: Urteile mit Signalwirkung fehlen

Zumindest ein gewisser Fahndungserfolg lässt sich aus den Zahlen lesen: Bei 1.515 Angriffen wurden insgesamt 1.155 Tatverdächtige ermittelt. "Wir wissen nur leider kaum, wie viele dieser Täter auch verurteilt werden", schränkt Lüdecke ein. "Eine abschreckende Wirkung hat das nicht." Seiner Meinung nach fehlen harte Urteile, die ein klares Zeichen setzen: "Dass wir als Gesellschaft solche Taten nicht dulden."

Die Hoffnung des 12-jährigen Achmeds hat sich derweil erfüllt. Einer der mutmaßlichen Angreifer, die Achmeds Bruder verletzt haben, wurde dingfest gemacht. Gegen ihn wird nun wegen gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung sowie Hausfriedensbruch ermittelt. Ob es bei erwiesener Schuld auch zu einem Urteil mit Signalwirkung kommt, bleibt abzuwarten.

Über die Gesprächspartner

  • Clara Bünger ist 1986 in Oldenburg geboren. Die Volljuristin ist im Januar 2022 für die ausgeschiedene Abgeordnete Katja Kipping für die Linkspartei in den Bundestag nachgerückt. Bünger sitzt im Rechts- sowie im Innenausschuss des Bundestages.
  • Robert Lüdecke ist Sprecher der Amadeu Antonio Stiftung (AAS), die Bildungsarbeit über Rassismus sowie weitere Formen der Diskriminierung leistet und zahlreiche lokale Initiativen fördert. Lüdecke ist Literatur- und Religionswissenschaftler und arbeitet seit 2011 für die AAS.

Verwendete Quellen

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