Während auf Lampedusa jede Woche tausende Menschen aus Nordafrika ankommen, ringt die EU noch um eine gemeinsame Asylpolitik. Katarina Barley will einerseits Migration stärker steuern und andererseits einen humanen Umgang mit Flüchtlingen. Im Interview erklärt die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, wie beides gleichzeitig gehen soll.
Katarina Barley (SPD) ist gerade viel unterwegs. Der Video-Anruf unseres Reporters erreicht die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments in Köln, wo sie auf dem Weg von Brüssel nach Hamburg eine Zwischenstation macht. Danach geht es für sie weiter nach Spanien zu einer Sitzung der sozialdemokratischen Fraktion des EU-Parlaments.
Dort wird sie auch auf ihre dänischen Genossinnen und Genossen treffen. Die stellen in ihrem Land derzeit die Ministerpräsidentin und fahren beim Thema Migration einen knallharten Kurs. Am liebsten würde Dänemark keinen einzigen Asylbewerber mehr aufnehmen. Im Interview kritisiert das Katarina Barley: Es brauche in Europa mehr Solidarität bei der Aufnahme von Geflüchteten.
Frau
Dass Menschen überhaupt auf dem Mittelmeer ertrinken müssen, ist eine Situation, die wir nicht hinnehmen können. Das zeigt, dass der jetzige Zustand nicht akzeptabel ist. Und dass es wirklich im Interesse aller ist, auch der Flüchtenden selbst, dass wir etwas an dem derzeitigen System ändern.
Die italienische Ministerpräsidentin
Das ist gegen internationales Recht. Wir können jetzt nicht einfach Wildwest-Methoden anwenden. Wir müssen uns im Rahmen der rechtlichen Ordnung bewegen. Zuallererst müssen wir Fluchtursachen bekämpfen. Das Zweite ist, dass wir zwischen denjenigen unterscheiden müssen, die fliehen, weil sie schutzbedürftig sind, und den Arbeitsmigranten. Das sind die beiden entscheidenden Veränderungen gegenüber dem jetzigen Zustand.
Aber was macht man mit Menschen, die schon im Boot auf dem Mittelmeer sitzen?
Wir lassen niemanden ertrinken, das muss doch selbstverständlich sein! Es gab schon mal ein europäisches Programm zur Seenotrettung, das brauchen wir wieder. Diese Verantwortung haben wir, weil das Menschen sind und weil wir Menschen sind. Nach der Rettung müssen wir aber schnell prüfen, wer bleiben kann und wer gehen muss.
Sie plädieren für eine Wiedereinführung der europäischen Seenotrettung?
Wir sehen, dass die einzelnen Staaten es nicht können oder, je nach Regierung, nicht wollen.
Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war am Sonntag auf Lampedusa, nur wenige Tage, nachdem Giorgia Meloni sie dazu aufgefordert hatte. Ist die Kommissionspräsidentin über das Stöckchen gesprungen, das ihr eine Rechtsaußen-Politikerin hingehalten hat?
Jedenfalls ist das eine Inszenierung von Georgia Meloni, die darüber hinwegtäuschen will, dass sie nicht einhalten kann, was sie im Wahlkampf vollmundig beim Thema Migration versprochen hatte.
Waren Sie schon mal auf Lampedusa?
Auf Lampedusa war ich noch nicht, aber ich war in anderen Flüchtlingslagern, etwa auf Sizilien, und habe mich dort sowohl mit Kommunalpolitikern als auch Geflüchteten ausgetauscht.
Lampedusa gilt als Brennpunkt der Flüchtlingsproblematik. Wäre es da nicht wichtig, dass Sie sich dort einen Eindruck machen von der Situation?
Wir haben viele Orte, wo die Situation große Probleme hervorruft. Das ist nicht nur Lampedusa. Das ist auch Griechenland, Malta und teilweise sind das die Grenzen im Osten der EU. Ich halte wenig von Symbolpolitik. Wir müssen wirklich gucken, wo die Fehler im System sind und wie wir sie beheben.
Genau das ist das Ziel der geplanten Reform, dass mehr Länder Geflüchtete aufnehmen und ihrer Verantwortung nachkommen. Im Moment tun das nur drei bis vier Mitgliedsstaaten, dazu zählt Deutschland. Wir könnten in Europa die Situation viel besser bewältigen, wenn sich mehr Staaten beteiligen würden. Dafür ist es wichtig, dass wir gleich unterscheiden zwischen denjenigen, die tatsächlich schutzbedürftig sind, und denjenigen, die wir nicht aufnehmen können. Und für diejenigen, die wir als Fachkräfte brauchen, muss es andere Wege geben, legal zu uns zu kommen, ohne sich dafür in Lebensgefahr zu begeben. Derzeit ist dieser Weg viel zu schwierig und bürokratisch. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz von Hubertus Heil und Nancy Faeser wird da schon helfen. Auch die Verfahren in den Botschaften müssen schneller gehen.
Sie haben den im Sommer im Rat der Mitgliedsstaaten gefundenen Asylkompromiss angesprochen, der derzeit in den EU-Gremien verhandelt wird. Dieser sieht Asylverfahren an den EU-Außengrenzen und Abschiebungen in "sichere Drittländer" vor. Stehen Sie vollumfänglich hinter diesen Plänen?
Wir haben eine Position der Mitgliedstaaten und wir haben eine Position des Parlaments. Die sind nicht deckungsgleich und wir sind noch in den Verhandlungen. Für mich ist wichtig, dass am Ende ein deutlich schnelleres Asylverfahren steht. Diejenigen, die bleiben können, müssen besser und schneller integriert werden und diejenigen, die nicht bleiben können, müssen die Europäische Union wieder verlassen. Es muss zudem gewährleistet sein, dass Unterbringung und Verfahren humanitär und rechtsstaatlich erfolgen. Wenn das alles der Fall ist, dann kann ich dem Vorhaben zustimmen.
Wo liegen die Differenzen zwischen Parlament und Rat?
Der Beschluss des Parlaments sieht zum Beispiel vor, dass Familien mit Kindern unter zwölf Jahren nicht in dieses Grenzverfahren müssen. Das ist der wichtigste Unterschied zur Position des Rats.
Auch die deutsche Regierung wollte Familien mit Kindern von den Asylverfahren an der EU-Außengrenze ausnehmen lassen, konnte sich aber in den Verhandlungen mit den anderen Staaten nicht durchsetzen. Erleben wir in der EU einen Rechtsruck beim Thema Flüchtlingspolitik?
Es gibt einen Rechtsruck in Europa, aber gerade bei diesem Thema hat es nach Jahren endlich eine Verständigung gegeben. Und es ist kein Wunder, dass Länder wie Polen und Ungarn dagegen sind, die eine geradezu feindselige Position gegenüber Geflüchteten einnehmen. Der Rat hat mit sehr deutlicher Mehrheit eine Verständigung gefunden, die besagt, dass bis auf wenige Ausnahmen alle Staaten Geflüchtete aufnehmen werden. Das ist ein sehr großer Schritt. Dieser Erfolg ist auch ein Verdienst der Bundesinnenministerin
"Ich finde das Bild falsch, das jetzt öfter von Nancy Faeser gezeichnet wird."
Ihre Parteikollegin Faeser fällt gerade mit einer deutlichen Tonverschärfung beim Thema Migration auf, spricht etwa häufig von konsequenter Abschiebung und verschärften Grenzkontrollen. Rennt Ihre Partei da gerade den Rechten hinterher?
Mein Eindruck ist genau umgekehrt. Es ist vor allem die Union, die sich mit dem Thema versucht zu profilieren, während Nancy Faeser tatsächlich etwas erreicht. Der Zustand, den wir haben, kann so nicht bleiben. Dass Menschen, die ein Asylverfahren durchlaufen haben und die kein Bleiberecht haben, Deutschland auch wieder verlassen müssen, ist schlicht eine rechtsstaatliche Position. Deswegen finde ich das Bild falsch, das jetzt öfter von Nancy Faeser gezeichnet wird.
Die Regierung in Dänemark unter sozialdemokratischer Führung will gar keine Asylbewerber mehr aufnehmen. Teilen Sie die Werte Ihrer dänischen Schwesterpartei noch?
Wir als SPD teilen in vielerlei Hinsicht deren Werte. Aber an dem Punkt sind wir verschiedener Meinung. Das liegt womöglich auch daran, dass Deutschland eine andere Geschichte als Dänemark hat.
Bedeutet diese historische Verantwortung, dass Deutschland einen größeren Teil der Verantwortung übernehmen muss als andere Länder?
Zumindest heißt es, dass wir diejenigen sind, die die Bedeutung des Asylrechts besonders wertschätzen. Diese Verantwortung haben wir. Es kann dennoch nicht sein, dass wir derzeit mit Luxemburg und Portugal zusammen die einzigen sind, die diese Verantwortung auch wirklich in die Tat umsetzen und Geflüchtete über den EU-Solidaritätsmechanismus aufnehmen.
Es ist äußerst schwierig, die EU-Staaten bei diesem Thema zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen. Wie hoffnungsvoll sind Sie, dass in Europa künftig eine humane Flüchtlingspolitik verfolgt wird?
Ich hoffe, dass wir alle eine humane Asylpolitik wollen, denn es sind Menschen, um die es da geht. Wir brauchen aber auch eine Asylpolitik, die Migration steuert. Wir müssen von dem jetzigen Zustand wegkommen, der für alle Beteiligten unbefriedigend ist, und stattdessen einen regelbasierten Zustand erreichen.
Zur Person:
- Katarina Barley wurde 1968 in Köln geboren, als Tochter einer Deutschen und eines Briten. Die Juristin arbeitete als Rechtsanwältin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bundesverfassungsgerichts, bevor sie 2013 für die SPD in den Bundestag einzog. Sie war SPD-Generalsekretärin, Bundesfamilien- und Bundesjustizministerin. 2019 wechselte sie ins Europäische Parlament. Dort ist sie eine von 14 Vizepräsidentinnen und -präsidenten. Seit Dezember 2021 gehört sie außerdem dem SPD-Parteivorstand an.
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