Wirtschaftsminister Robert Habeck sieht Deutschland bei der Einhaltung der Klimaziele bis 2030 auf Kurs. In der öffentlichen Debatte hagelt es dagegen Kritik. Zwei Experten erklären, wie es um den Klimaschutz in Deutschland wirklich bestellt ist.

Eine Analyse
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Mitte März präsentierte der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck (Grüne), auf einer Pressekonferenz eine gute Nachricht in einer krisenbehafteten Zeit: Deutschland ist laut jüngster Projektionsdaten des Umweltbundesamtes (UBA) beim Klimaschutz auf Kurs, seine bis 2030 gesteckten Ziele zu erreichen. "Die Klimaziele 2030 sind in Sicht", kommentierte auch UBA-Präsident Dirk Messner die frohe Botschaft.

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Der auf dem internationalen Pariser Klimaabkommen basierende CO2-Grenzwert des deutschen Klimaschutzgesetzes wird laut dem Bericht um 47 Millionen Tonnen Treibhausgas unterschritten. Dieser Erfolg stellt eine komplette Abkehr vom Prognosebericht 2023 dar, als die Behörde noch voraussagte, Deutschland werde seine Klimaschutzziele bis 2030 um 200 bis 300 Millionen Tonnen CO2 verfehlen. Doch woher kommt dieser Wandel?

Klimawissenschaftler über Erfolg beim Klimaschutz: Kommt auf den Bereich an

Während Habeck die Trendwende auf politische Entscheidungen zurückführt, werfen ihm Kritiker "Tricksereien" ("Welt") vor und die "Tagesschau" konstatiert gar: "Insgesamt lässt sich die Bilanz 2023 aber nur dann als großer Erfolg verkaufen, wenn man die negativen Effekte der schlechten Wirtschaftslage billigend in Kauf nimmt."

Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt Matthias Kalkuhl, Co-Leiter des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC und Professor für Klimawandel, Entwicklung und Wirtschaftswachstum an der Universität Potsdam: "Der Erfolg im Kampf gegen den Klimawandel ist je nach Bereich recht unterschiedlich."

Matthias Kalkuhl erklärt, man müsse vor allem loben, dass Deutschland im Bereich von Energie und Strom auf einem guten Weg sei: "Wir beobachten einen starken Zubau erneuerbarer Energien. Hier müssen wir uns kaum Sorgen machen. Die Energiewirtschaft wird auch deshalb verlässlich funktionieren, weil sie Teil des Emissionshandels der Europäischen Union ist. Über die korrespondierende Mengenbegrenzung halten wir hier unsere Klimaschutzziele gewissermaßen automatisch ein."

Auf diese Veränderung muss sich die Politik jetzt vorbereiten

Der Emissionshandel der Europäischen Union als das zentrale Klimaschutzinstrument ist seit 2020 auch mit dem Schweizer Emissionshandel verbunden. Außerdem gehören ihm, neben den EU-Mitgliedstaaten, auch Liechtenstein, Island und Norwegen an. Er funktioniert über das sogenannte Cap-and-Trade-System.

Stufenweise dürfen in der teilnehmenden Energiewirtschaft, in der energieintensiven Industrie und im innereuropäischen Flugverkehr immer weniger Treibhausgasemissionen ausgestoßen werden. Innerhalb festgelegter Obergrenzen (Cap) werden Emissionsberechtigungen entweder kostenlos oder über Versteigerungen ausgegeben. Diese können frei auf dem Markt gehandelt werden (Trade), wodurch sich ein Preis für den CO2-Ausstoß ergibt. So sollen Anreize für Unternehmen entstehen, ihre Emissionen zu reduzieren.

Auf europäischer Ebene passiere gerade sehr viel, fügt Kalkuhl hinzu: "Europaweit werden wir ab 2027 einen CO2-Preis für Gebäude und Verkehr bekommen, den wir dann nicht mehr wie bisher über unseren nationalen Emissionshandel steuern können. Das kann eine sehr einschneidende Veränderung werden und sie liegt nicht allzu weit in der Zukunft."

Deshalb fordert der Klimaexperte: "Die Politik muss sich nun darauf vorbereiten und gerade diese Umstellung als soziale Frage begreifen. Denn für die Verbraucher muss der Wandel sozialverträglich gestaltet werden."

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Klimaforscher Kalkuhl: In diesen drei Bereichen gibt es Verbesserungspotential

Während mit Blick auf die Klimaziele der Bundesregierung die europäische Ebene stets mitgedacht werden muss, hat Deutschland auch in einigen Bereichen Nachholbedarf, die durch nationale Hebel angegangen werden können. Dazu gehören laut Experte Kalkuhl vor allem der Verkehr, die Landwirtschaft und Gebäude: "In der Elektromobilität läuft es schleppend und es gibt zu wenige Anreize für den Umstieg. Auch in der Landwirtschaft passiert im Moment zu wenig und wir haben kaum Maßnahmen, um Emissionen zu reduzieren." Im Hinblick auf die Bauernproteste sei das aber gerade politisch besonders schwierig.

Der dritte von Kalkuhl genannte Bereich hatte zuletzt durch das Gebäudeenergiegesetz (GEG) die öffentliche Debatte geprägt. Doch trotz der Aufmerksamkeit und der Förderangebote durch den Staat laufe gerade der Einbau von Wärmepumpen zu schleppend, kritisiert Kalkuhl.

Die Emissionseinsparungen im Vergleich zum vergangenen Jahr seien dennoch hoch. Das liege auch an Sondereffekten in der Energiewirtschaft: "Dazu gehört ein geringeres Wirtschaftswachstum, ein milderer Winter und eine große Emissionseinsparung aufgrund des nun wieder billigen Gases, sodass man Kohle einsparen konnte." Während der Energiekrise sei nämlich besonders viel Kohle verstromt worden, sagt Kalkuhl.

Auf Anfrage unserer Redaktion erklärt dazu auch Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: "Nur 20 Prozent der Emissionsminderung sind auf Klimaschutzmaßnahmen zurückzuführen."

Einsparungen im Vergleich zu letztem Jahr: Das sagt der Expertenrat für Klimafragen

Das zeigen auch die Zahlen des Think-Tanks Agora Energiewende, auf den Kemfert verweist. In dem Bericht werden etwa ein Drittel der Einsparungen auf veränderte Energiepreise und Produktionsrückgänge zurückgeführt sowie knapp 40 Prozent auf lediglich angenommene konjunkturbedingte Produktionsrückgänge und einen daraus resultierenden, geringeren Stromverbrauch in der Zukunft – diese Effekte sind somit nicht Resultat von Klimaschutz. Die restlichen zehn Prozent fallen auf methodische Änderungen in der Berichterfassung.

Claudia Kemfert verweist außerdem auf den Prüfbericht zur Berechnung der deutschen Treibhausgasemissionen des Jahres 2023 des Expertenrats für Klimafragen. Laut diesem hat die Energiewirtschaft, mitunter aufgrund der stark gesunkenen Kohle-Verstromung, den Großteil zur Emissionsreduktion beigetragen. Emissionsrückgänge im Industriesektor werden auf starke Produktionsrückgänge in der energieintensiven Industrie zurückgeführt und die schwache Wirtschaftsleistung habe auch ihren Teil zur Senkung der Emissionen im Verkehr beigetragen. Der Expertenrat bilanziert aber, dass ohne die starken Produktionsrückgänge und die milde Witterung die Treibhausgasemissionen die zulässige Jahresemissionsmenge in Summe überschritten hätten.

Den im Bericht genannten ausbaufähigen Bereichen stehen aber auch positive Aspekte gegenüber: "Dazu gehört der Ausbau der Solarenergie und der Windkraft. Wir haben darüber hinaus einen nationalen CO2-Preis und das Bundesemissionshandelsgesetz", beschreibt Kalkuhl. Darüber könne man auch die beiden im Bericht des Expertenrats genannten, kritischen Bereiche Verkehr und Gebäude besser steuern. Doch bislang traue sich die Politik nicht, die Preise anzuheben: "Natürlich darf man auch hier nicht vergessen: Man muss Anreize setzen und gleichzeitig für einen sozialen Ausgleich sorgen, weil hohe Energiepreise die Haushalte unterschiedlich stark belasten. Das ginge beispielsweise über eine Ausweitung des Klimageldes", schlägt er vor.

Ist Deutschland abhängig von Stromimporten? Klimaforscher widerspricht

Auch der Stromimport Deutschlands steht in der öffentlichen Diskussion in der Kritik. So heißt es in der öffentlichen Debatte, Deutschland sei abhängig von Stromimporten und schöne dadurch seine Klimabilanz, da diese Emissionen im Report des Umweltbundesamtes nicht aufgeführt würden. Dazu stellt Kalkuhl klar: "Wir importieren eigentlich gar nicht so viel. Man muss bei der Import-Bewertung immer genau schauen – die Zahlen variieren von Tag zu Tag und von Monat zu Monat." Auch hier ist bei einer realistischen Bewertung der Lage der Blick auf die europäische Ebene geboten.

"Weil wir einen europäischen Strommarkt haben, sind die Kosten für alle Länder niedriger. Eine Autarkie ist hier auch gar nicht das Ziel. Knappheiten und Überschüsse werden so sinnvoll verteilt. Natürlich importiert Deutschland im Winter tendenziell mehr Strom. Wenn es im Winter aber viel windet, dann exportieren wir viel. Über das Jahr gesehen ist das relativ ausgeglichen", rechnet der Experte vor.

Neben der Import-Debatte wird darüber hinaus über den bereits vollzogenen Atomausstieg und den für 2038 avisierten Kohleausstieg debattiert. Die Befürchtung der Kritiker: Deutschland werde noch mehr auf Importe angewiesen sein.

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) weist in einer schriftlichen Antwort auf eine Anfrage unserer Redaktion bezüglich möglicher Versorgungskrisen auf die EU-Risikovorsorge-Verordnung hin. Der Versorgungssicherheit- und Monitoring-Bericht der Bundesnetzagentur zeige, entgegen der Behauptungen des Bundesrechnungshofes, es handle sich um ein "Best-Case"-Szenario, "dass die Versorgungssicherheit Strom unter verschiedenen Szenarien und Annahmen bis 2030 gewährleistet ist". Alle zwei Jahre werde dieser Bericht aktualisiert und das BMWK stehe im engen Austausch mit der Bundesnetzagentur und der Bundesregierung.

Trotz abgeschalteter Atomkraftwerke und Kohleausstieg: Stromversorgung gesichert

Außerdem verweist das BMWK auf den europäischen Strommarkt: "Deutschland verfügt über ausreichende Kapazitäten im Strommarkt, um eine verlässliche Stromversorgung zu gewährleisten. Gleichzeitig ist Deutschland fest in den europäischen Strommarkt eingebettet. Das sorgt zusätzlich für eine sichere Stromversorgung und stabile, bezahlbare Preise in Phasen hohen Stromverbrauchs."

Unabhängig von der Diskussion zwischen Bundesrechnungshof und BMWK erklärt Kalkuhl: "Die Atomkraftwerke sind ja schon abgeschaltet und wir konnten das gut ausgleichen. Voraussichtlich werden die Kohlekraftwerke auch nicht erst 2038, sondern eher acht Jahre vorher vom Netz gehen. Das liegt daran, dass der CO2-Preis bis dahin voraussichtlich zu teuer sein wird und es sich wirtschaftlich nicht mehr lohnen wird. Ob wir dann mehr Strom importieren, hängt vom Zubau erneuerbarer Energien ab." Doch gerade in diesem Bereich sei Deutschland auf einem guten Weg.

Klimaforscher über Projektionsbericht des Umweltbundesamtes: Ein sinnvolles Tool

Unstrittig ist jedenfalls: Wenn es um den Zubau erneuerbarer Energien geht, kommen die von Kalkuhl bereits als ausbaufähig bezeichneten Bereiche Verkehr und Gebäude in Zukunft noch stärker mit ins Spiel. "Die Elektrifizierung im Bereich Gebäude und Verkehr werden eine erhebliche Nachfragesteigerung nach Strom generieren," prophezeit der Wissenschaftler. "Der Projektionsbericht des Umweltbundesamtes ist ein Hilfsmittel, um den Blick für langfristige Entwicklungen zu weiten", meint Kalkuhl.

Heutige Investitionen in den Klimaschutz beeinflussten langfristige Entwicklungen. "Deshalb ist dieser Projektionsbericht ja auch von der Europäischen Kommission vorgeschrieben worden. Er schafft ein Bewusstsein für die Problematik. Natürlich ist er auch mit Unsicherheiten belastet und nicht frei von methodischen Schwächen. Aber ein sinnvolles Tool ist er dennoch", konstatiert der Experte.

Ein letzter Kritikpunkt, der in der Debatte gegen Minister Habeck aufgeführt wird, ist jener des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und dessen Einfluss auf die Strompreise in Deutschland. Der Wirtschaftsminister hatte die hohen Strompreise auf den Krieg zurückgeführt und im Anschluss die Senkung des Preises an die erneuerbaren Energien geknüpft. Das, so die Kritiker, sei keine glaubwürdige Erzählung. Der Strompreis sei durch die Verknappung der CO2-Berechtigungen im Europäischen Großhandel bereits vor Beginn des Krieges stark gestiegen.

Klima- und Wirtschaftswissenschaftler: "Der Klimawandel ist am Ende auch eine soziale Frage"

Matthias Kalkuhl sieht hier wiederum keinen richtigen Widerspruch. "Natürlich hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine eine Rolle gespielt und natürlich auch der Emissionshandel auf europäischer Ebene. Dieser basiert ja auf Angebot und Nachfrage. Durch die Corona-Pandemie hatten wir wenig CO2- Ausstoß und erst mit deren Ende wieder einen rasanten Anstieg."

Der europäische Green New Deal und die Verknappung der CO2-Zertifikate habe im Zuge dessen zu einer Preissteigerung geführt: "Außerdem werden auch nicht alle Zertifikate genutzt. Ein Teil wird in der Erwartung höherer Preise auch aufgespart." Diese Entwicklungen seien aber rational nachvollziehbar und transparent. "Wenn in einer Situation der Knappheit der Strombedarf durch fossile Energien gedeckt wird, dann führt das letztlich zur Steigerung der Preise für den Endkunden. Und da sind wir wieder beim Thema: Der Klimawandel ist am Ende auch eine soziale Frage."

Über die Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Matthias Kalkuhl ist Co-Leiter des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change sowie Leiter der Arbeitsgruppe Wirtschaftswachstum und menschliche Entwicklung. Außerdem ist er Professor für Klimawandel, Entwicklung und Wirtschaftswachstum an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam.
  • Prof. Dr. Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.

Verwendete Quellen

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