Der eine war elf, der Zweite sieben und der Dritte gerade mal fünf Jahre alt, als die Mauer im November 1989 fiel. Sie haben kaum eigene Erinnerungen an das Ereignis, das wie kein anderes Deutschland und Europa in der jüngeren Geschichte verändert hat - und machen sich nun auf eine Reise in die Vergangenheit. Dabei besuchten Sie Orte, die untrennbar mit dem Mauerfall verbunden sind, trafen Menschen, die die Geschichte nicht nur miterlebt, sondern auch mitgestaltet haben - und beleuchten den Wandel, der Deutschland in den vergangenen 25 Jahren verändert hat. Begleiten Sie uns beim Projekt "Grenzgänger".

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Christian Zechel, Berlin

An die Zeit, als ich elf Jahre alt war, habe ich eine sehr emotionale Erinnerung. Das war vor knapp 25 Jahren. Noch heute wird mir ganz warm ums Herz, wenn ich an all die jubelnden Menschen denke, an die Autokorsos, wie das ganze Land im Ausnahmezustand war. Es ist der Sommer 1990, Deutschland ist gerade Weltmeister geworden. War damals noch was anderes, was mich emotional berühren sollte?

Redakteur Christian Aichner (li.) mit den beiden Grenzern Holger Bienert (m.) und Alfred Eiber (re.) © Andreas Maciejewski

Nur wenige Monate zuvor, am 9. November 1989, war die Mauer gefallen. Das habe ich zwar aus der Ferne und im Fernsehen miterlebt - zu sagen, das Ereignis habe mich stark berührt, wäre allerdings ziemlich übertrieben. Meine Erinnerung daran gleicht eher einem (zugegeben ziemlich guten) Film, bei dem ich auch heute noch Gänsehaut bekomme. Und jetzt soll ich - aufgewachsen in der schwäbischen Provinz - etwas darüber schreiben. Doch was bedeutet der Mauerfall heute noch? Ist er mehr als nur eine abstrakte Warnung davor, was verblendete politische Ideologie mit sich bringen kann? Da hilft wohl nur eines: Ich muss mir das vor Ort mal anschauen. Ab nach Berlin.

Dort kann man sich dem Thema "Mauer" auf vielerlei Arten nähern. Beispielsweise, indem man mal zur Mauer - oder dem, was davon übrig ist - geht. Mein Hotel ist in der Nähe des Checkpoint Charlie. Dort kann man sich mit Menschen, die sich als Grenzsoldaten verkleiden, fotografieren lassen, man kann am Souvenirstand Gasmasken aus Plastik kaufen, und wenn man keine Lust auf die Infotafeln hat, kann man zu McDonald's gehen. Wem Disneyland zu weit weg ist, kann sein Glück ja hier im "Honeckerland" versuchen. Mich bringt es leider nicht weiter.

Redakteur Andreas Maciejewski (re.) mit dem BRD-Grenzbeamten Redakteur Alfred Eiber. © Christian Aichner

Vielleicht zeigt sich ja aber im Gespräch mit Touristen, dass es nur mir so geht, dass mich der Mauerfall zwar irgendwie betrifft, aber nichts angeht. Doch auf die Frage "Wie haben Sie den Mauerfall erlebt?" kommt wahlweise "sehr bewegend" oder "ich war zwei". Mir geht es wohl doch nicht alleine so. Auch den Berlinern selbst ist die Mauer mittlerweile egal, Jubiläum hin oder her, sei es der Kneipenbedienung oder dem Taxifahrer, den der Fahrer im Auto vor uns emotional deutlich mehr bewegt. Eigentlich natürlich ein gutes Zeichen, dass die deutsche Teilung heute niemanden mehr interessiert und die Menschen zur Normalität übergehen. Mich bringt es leider nicht weiter.

Ich bin enttäuscht von Berlin und fahre ins Grüne. Natürlich nicht irgendwo hin, sondern an den Außenring. Was man gerne vergisst: West-Berlin war auf einer Länge von mehr als 150 Kilometern komplett ummauert. Ich suche mir auf gut Glück eine Ecke aus und lande hier:

Auch hier, am ehemaligen Grenzübergang Dreilinden in der Nähe von Potsdam, ist von der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands kaum noch etwas zu sehen. Nur gelegentliche Infotafeln erinnern an die DDR-Zeit. Das ist spannend und auch irgendwie befriedigend, dass ein Ort des Schreckens zuwuchert. Aber Sie ahnen es schon: Mich bringt es nicht weiter. Die Mauer ist mir noch immer genauso fremd wie am Anfang.

Dann kommt mir eine großartige Idee, auf die man heutzutage viel zu selten noch kommt. Ich unterhalte mich mal mit jemandem, der damals dabei war. Ganz in der Nähe des verfallenen Grenzübergangs werde ich fündig. Eine kleine Kapelle und eine DDR im Miniaturformat am Stadtrand von Berlin haben eine spannende und bewegende Geschichte zu bieten, die das Abstrakte endlich greifbar macht. Später interviewe ich noch den ersten frei gewählten und zugleich letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, und spreche zum Abschluss noch mit einem DDR-Flüchtling, der vor 50 Jahren durch einen Tunnel in den Westen abgehauen ist. Und siehe da: Der Mauerfall ist jetzt nicht mehr nur ein Ereignis im Geschichtsbuch und in der ARD-Doku um 0:35 Uhr - sondern eines, das Menschen direkt betroffen hat. Und deren Geschichten Sie bei uns lesen können.

Andreas Maciejewski und Christian Aichner im deutsch-deutschen Grenzgebiet

Als die Mauer fiel, waren wir beide sieben und fünf Jahre alt. Während der eine überhaupt keine Erinnerungen an das historische Ereignis hat, blieb dem anderen der Mauerfall bereits in jungen Jahren fest im Gedächtnis hängen. Im Fernseher jubelten Menschen. Sie liefen aufeinander zu, weinten und umarmten sich. Viele schwenkten die deutsche Flagge. Als seine Mutter die Bilder sah, brach sie in Tränen aus. Bereits in diesem jungen Alter wusste er, dass dies Tränen der Freude sind. Dass etwas Weltbewegendes passiert war.

In den folgenden Jahren - in der Schule und später im Politik- und Geschichtsstudium - haben wir immer wieder von der Teilung Deutschlands, dem Kalten Krieg, dem Mauerfall und der Wiedervereinigung gelesen. Zahlen, Daten und Fakten haben sich in unser Gedächtnis gebrannt. Wir wussten über alles Bescheid - trotzdem wussten wir viel zu wenig.

Buchstaben und Zahlen alleine können aber nicht vermitteln, was damals wirklich geschah. Es ist, als ob wir am Nachmittag etwas über das Leid von Flüchtlingen lesen. Diese Menschen fliehen, müssen um ihr Leben fürchten. Wir sind von ihrem Schicksal betroffen. Doch erst am Abend, wenn wir in der "Tagesschau" die Bilder dazu sehen, wird dieses Leid spürbarer. Realer.

Um uns ein eigenes Bild vom Mauerfall und was seitdem passierte zu machen, sind wir in das deutsch-deutsche Grenzgebiet gereist. Nach Plauen, Hof, Leipzig und in andere, kleinere Orte, in denen die deutsche Teilung ebenfalls Spuren hinterlassen hat. Wir wollten die Orte sehen, wo Geschichte passierte - und haben uns mit Menschen getroffen, die sie mitgeschrieben haben. DDR- und BRD-Grenzer, die die Mauer bewacht haben. Menschen, die in einem Dorf gelebt haben, das ohne die Wende überhaupt nicht mehr existieren würde. Oder Menschen, die mitten in den Demonstrationen gegen das DDR-Regime standen, obwohl sie um ihr Leben fürchten mussten. Wir wollten wissen, warum sie so gehandelt haben. Was sie dabei empfunden haben. Und was sie heute - 25 Jahre danach - darüber denken.

Genau diesen Wandel zwischen den Ereignissen 1989 und der Welt heute, 2014, stellen wir in den Reportagen dar, die in den folgenden Tagen erscheinen. Wie hat sich das Leben der damaligen Protagonisten verändert? Wie haben sich die Orte verändert? Begleiten Sie uns in den folgenden Tagen auf unserer Reise in die Vergangenheit - und noch viel wichtiger: Teilen Sie Ihre Erlebnisse von damals mit uns! Oder sagen Sie uns, was Ihnen der Mauerfall heute noch bedeutet. Schicken Sie uns Ihre Geschichte an redaktion@1und1.de.

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