Seit zwei Jahren ist die Ampelkoalition im Amt. Wie bewerten die Vorsitzenden der Nachwuchsorganisationen von SPD, Grünen und FDP die Arbeit der Regierung? Ein Gespräch über Schulen und Schulden, versprochenen Fortschritt und vermisste Führung.
Zwei Dinge haben die politischen Nachwuchsorganisationen gemeinsam: Erstens verstehen sie sich nicht als Anhängsel ihrer Partei, sondern als eigenständige Stimme der Parteijugend. Zweitens leuchten die Farben bei ihnen deutlicher: Die Jungsozialisten (Jusos) sind im Schnitt linker als die SPD, die Grüne Jugend grüner als die Grünen und die Jungen Liberalen freiheitlicher als die FDP.
Zwei Jahre nach dem Start der Bundesregierung ist es Zeit für ein Gespräch mit den Vorsitzenden der Jugendorganisationen der Ampel-Parteien: Philipp Türmer (Jusos), Svenja Appuhn (Grüne Jugend) und Franziska Brandmann (Junge Liberale) treffen in dieser Konstellation zum ersten Mal aufeinander, um über ihre Zwischenbilanz der Regierung zu diskutieren. Es geht lebhaft zu.
Frau Brandmann, Frau Appuhn, Herr Türmer, wenn Sie der Ampelkoalition eine Schulnote geben müssten – welche wäre das?
Franziska Brandmann: Ich bin ganz froh, dass ich die Uni und Noten hinter mir habe. Mein Fazit nach zwei Jahren: Die Koalition muss mehr Fortschritt wagen. Das kann es noch nicht gewesen sein. Inhaltlich, aber auch im Stil.
Svenja Appuhn: Wir als Grüne Jugend sind eigentlich gegen Ziffernnoten, weil sie keine hilfreiche Rückmeldung sind und oft nur demotivieren. Trotzdem würde ich sagen: Die Ampel ist versetzungsgefährdet, so wie bisher kann es nicht weitergehen. Viele Menschen machen sich Sorgen um die hohen Preise, um ihren Job und ihre Zukunft – deswegen haben es die Rechten gerade zu leicht, die Ärmsten gegeneinander auszuspielen. Die Koalition hat sich von Anfang an geweigert, die Verteilungsfrage zu stellen und an der Schuldenbremse zu rütteln.
Philipp Türmer: Ich würde auch sagen: Noch ist unsicher, ob die Ampel die Versetzung schafft. Es steht immer noch kein Haushalt für das nächste Jahr. Das ist sinnbildlich für die Situation, in der wir uns befinden. Der Geist des Fortschritts und des Aufbruchs ist weg. Ganz im Gegenteil: Man hat das Gefühl, dass die Koalitionäre sich nicht mehr so recht über den Weg trauen. Für die größten Herausforderungen haben sie noch keine Antworten gefunden.
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Auch die Bürgerinnen und Bürger stellen der Koalition ein schlechtes Zeugnis aus. Nur einer von vier Deutschen ist mit der Ampel zufrieden. Wozu ist sie überhaupt noch nötig?
Philipp Türmer: Niemand kann in der aktuellen Lage Neuwahlen wollen. Wir brauchen jetzt eine handlungsfähige Regierung. Das Land steht vor großen sozialen und klimapolitischen Herausforderungen. Ganz zu schweigen von der extrem schwierigen internationalen Lage. Die Ampel ist gefordert, dem Bild des überforderten Staates etwas entgegenzusetzen. Wir brauchen eine Regierung, die in den sozialen Fragen an der Seite des Menschen steht und Lösungen bereithält.
Franziska Brandmann: Die Ampel hat Fortschritt versprochen und damit angefangen: Der Paragraph 219a im Strafgesetzbuch wurde abgeschafft. Es gab Fortschritte bei der Digitalisierung, das Bafög wurde für mehr Menschen geöffnet. Dann kam der russische Angriff auf die Ukraine und die Energiekrise. Modernisierungsprojekte wurden hinten angestellt. Aus diesem Krisenmodus müssen wir raus, denn der Staat hat Modernisierung, zum Beispiel die Aktienrente, bitter nötig.
Was bedeutet Generationengerechtigkeit?
Die Frage ist aber: Was darf das kosten? Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts fehlt der Koalition für 2024 eine zweistellige Milliardensumme.
Franziska Brandmann: Das Urteil hat klargestellt, dass es bei der Einhaltung der Schuldenbremse keine Tricksereien geben darf. Bitter, dass dafür ein Gerichtsurteil nötig war. Jetzt müssen sich die Koalitionspartner zusammenraufen. SPD und Grüne sagen, die Schuldenbremse muss gestrichen werden, damit der Staat handlungsfähig bleibt. Ich sage: Wer meint, der Staat sei bei 350 Milliarden Euro jährlichen Einnahmen nicht handlungsfähig, der ist in der Politik falsch. Der Staat hat genug Geld. Politik muss damit jetzt ordentlich haushalten.
Was könnte das konkret heißen?
Franziska Brandmann: Mehr als ein Drittel des Bundeshaushalts geht in den Bereich Arbeit und Soziales, davon fast 75 Prozent in die Rente. Durch die Rente mit 63 fehlen Fachkräfte, die wir auf dem Arbeitsmarkt dringend brauchen. Durch das Ende der Rente mit 63 würde man drei Milliarden Euro sparen. Jeden Monat!
Svenja Appuhn: Ich bin nicht bereit, meine Großeltern in Haftung zu nehmen, weil die Haushaltstricks der Ampel aufgeflogen sind. Außerdem befinden wir uns immer noch in einer Krise – aus der kann man sich nicht heraussparen. Krisenpolitik ist in der Vergangenheit dann gelungen, wenn der Staat massiv investiert hat, wie zum Beispiel in Spanien: Dort hat man Renten angehoben, Lebensmittel vergünstigt, Mieten gedeckelt und Ticketpreise gesenkt und so die Inflation klein gehalten. Der Bundeshaushalt ist groß, das stimmt. Aber die Herausforderungen sind noch größer. Wenn wir marode Schulen sanieren, die Bahn winterfest und das Land klimaneutral machen wollen, geht das nicht mit der Schuldenbremse.
Franziska Brandmann: Wir Jungen Liberalen verteidigen die Schuldenbremse, weil wir ein anderes Verhältnis zum Staat haben. Aus unserer Sicht kann und soll der Staat nicht alles regeln. Und Politikern müssen klare Grenzen gesetzt werden. Die Schulden, die sie jetzt machen, schränken die politische Gestaltungsfreiheit der nächsten Generation ein. Wir zahlen schon jetzt 40 Milliarden Euro für Zinsen. Ich möchte nicht, dass das weiter steigt und so weniger Geld für sinnvolle politische Maßnahmen bleibt.
Philipp Türmer: Wir Jusos halten die Schuldenbremse für das größte Unrecht an unserer Generation. Wir verzichten gerade auf Investitionen, um keine Schulden zu machen. Diesen Kurs haben wir als einziges Industrieland der Welt eingeschlagen und den werden wir nicht durchhalten. Ich habe als junger Mensch keine Angst vor etwas mehr Schulden. Ich habe Angst vor einer Deindustrialisierung und einem weiteren Verfall der Infrastruktur. Wenn wir jetzt nicht investieren, wird das zulasten der jungen Generation gehen.
Svenja Appuhn: Wir könnten zum Beispiel klimaschädliche Subventionen abbauen. Das Zinsargument finde ich überhöht: Selten war die Zinsbelastung im Vergleich zur Wirtschaftsleistung so gering wie heute. Ich glaube, das wichtigste Argument ist aber: Nicht getätigte Investitionen sind die Schulden der Zukunft.
Investitionsbedarf besteht auch in der Bildung. Das haben gerade die schlechten Ergebnisse der Pisa-Studie für Deutschland gezeigt. Und dieses Thema betrifft junge Menschen besonders.
Svenja Appuhn: Ich bin auch politisch aktiv geworden, weil ich das Schulsystem wahnsinnig ungerecht fand. Wie erfolgreich die Bildungskarriere ist, hängt in Deutschland immer noch fast ausschließlich vom Elternhaus ab. Auf welcher weiterführenden Schule man landet, hat vor allem damit zu tun, welche Unterstützung man aus dem Elternhaus bekommt. Und die weiterführende Schule bestimmt dann ganz oft den weiteren Bildungsweg. Es fehlt aber auch an Ausstattung. Wir haben zu wenig Ganztagsschulen und einen massiven Personalmangel im pädagogischen und psychosozialen Bereich.
Franziska Brandmann: Es gibt immer mehr 1,0-Abis, während wir gleichzeitig bei Pisa abschmieren. Das zeigt doch: Die gesamte Bildungspolitik in Deutschland ist gescheitert. Erstens brauchen Schulen mehr Freiräume, zum Beispiel, indem sie frei über ihr Budget bestimmen dürfen. Zweitens müssen wir über die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern sprechen. Die meiste Macht liegt aktuell bei den Bundesländern. Die Kultusministerkonferenz kommt ständig zusammen, entscheidet aber nichts. Aus meiner Sicht muss sie sich auflösen und Bund und Länder ganz neu verhandeln: Wer sollte was übernehmen, damit sich endlich etwas ändert?
Philipp Türmer: Wir sind uns einig, dass wir mehr Geld im Bildungssystem brauchen – vor allem in der frühkindlichen Bildung. Ein Ergebnis der Pisa-Studie ist aber auch, dass unser Bildungssystem besonders wenig durchlässig ist. Es hat einen starken Einfluss auf die Schullaufbahn, ob man arme oder reiche Eltern hat. In der Pisa-Studie haben Länder besser abgeschnitten, in denen die Schüler*innen länger gemeinsam lernen. Das bestärkt uns in der Sichtweise, dass wir auch in Deutschland die Dreigliedrigkeit abschaffen müssen.
Wie findet man Auswege aus dem Streit?
Wenn die Ampelkoalition bis zum Ende durchhält, liegen noch knapp zwei Jahre vor ihr. Was würden Sie Ihren "Mutterparteien" für diese Zeit raten?
Philipp Türmer: Der Koalition fehlt es momentan an einer klaren sozialdemokratischen Linie, vor allem aus dem Kanzleramt. Wir brauchen einen an Verteilungsgerechtigkeit orientierten Kurs. Die Regierung muss den aktuellen Krisen eine Zukunftsvision entgegensetzen und die Botschaft vermitteln: Wir bekommen das hin, wir packen die sozialen Probleme im Land an und bekommen auch die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft hin, um den Wohlstand zu erhalten. Dazu braucht es einen Kanzler, der diese Vision auch umsetzt.
Svenja Appuhn: In Zeiten massiver wirtschaftlicher Verunsicherung muss die ganze Regierung jetzt soziale Politik machen, die das Leben der Menschen spürbar verbessert und das Ganze mit Klimaschutz verbindet. Wir haben da ganz konkrete Vorschläge: Mieten deckeln, den Mindestlohn auf 15 Euro erhöhen, ein günstigeres Deutschlandticket anbieten und endlich das Klimageld auszahlen.
Franziska Brandmann: Ich würde der FDP mit Blick auf die Auseinandersetzung über Schuldenbremse und Steuererhöhungen raten: Stabil bleiben! Über 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind der Meinung, der Staat hat genug Geld zur Verfügung. Beim Thema Migration bin ich anderer Meinung als Svenja. Menschen, die vor Bedrohung fliehen, finden bei uns Zuflucht. Aber wer kein Bleiberecht hat, muss abgeschoben werden. Wer das verneint, verweigert sich stumpf der Realität.
Das ist jeweils die reine Lehre der Parteien. Es geht in der Politik doch auch darum, Kompromisse zu finden. Was würden Sie machen, wenn Sie an der Stelle von Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner einen Weg aus der Haushaltskrise finden müssten?
Svenja Appuhn: Das ist ein spannendes Gedankenexperiment, aber als Grüne Jugend haben wir gar nicht den Anspruch, einfach nur Verhandlungstipps an die Regierung zu geben. Wir sehen unseren Job eher darin, die Regierung zum Handeln zu bewegen, indem wir gesellschaftlichen Druck aufbauen. Deshalb tragen wir unseren Protest gemeinsam mit Verbündeten auf die Straße, bis sozial gerechter Klimaschutz, die Verteilungsfrage und eine menschliche Asylpolitik endlich angegangen werden.
Franziska Brandmann: Jusos und Grüne Jugend haben nie akzeptiert, dass es keine linke Mehrheit bei der Bundestagswahl gab. Sie begnügen sich damit, von der Seitenlinie aus herumzuschreien. Wir Julis machen das anders und liefern konkrete Lösungsvorschläge. SPD, FDP und Grüne können zum Beispiel finanzielle Freiräume schaffen, indem sie die Subventionen im Bundeshaushalt kritisch prüfen. Mit dem Abbau von Subventionen könnte Geld für Bildung und Digitalisierung frei werden. Oder für die Modernisierung der Schiene, die bitter nötig ist.
Philipp Türmer: Wir sitzen ja alle nicht im Kanzleramt. Aber wenn ich mich auf dieses Gedankenexperiment einlasse, bleibe ich dabei: Angesichts dieser ganzen Streithähne mangelt es an Führung aus dem Kanzleramt. Nach drei Wochen hat man sich immer noch nicht geeinigt, wie man mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgeht. Die SPD ist die größte Partei der Koalition und stellt den Kanzler. Sie hat mit dem Versprechen die Bundestagswahl gewonnen, dass die Kosten der aktuellen Krise nicht auf den Schultern der Schwächsten abgeladen werden. Das muss der Kanzler nun einlösen und die versprochene Führung liefern.
Über die Gesprächspartner
- Svenja Appuhn ist Jahrgang 1997 und im hessischen Main-Taunus-Kreis aufgewachsen. Sie war Landessschulsprecherin in Hessen und studiert Medizin in der Medizinischen Hochschule Hannover. Seit Oktober 2023 ist sie neben Katharina Stolla eine von zwei Bundessprecherinnen der Grünen Jugend.
- Franziska Brandmann stammt aus dem rheinischen Grevenbroich und ist seit 2021 Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen. Die 29-Jährige studierte Politikwissenschaften in Bonn und Harvard und promoviert inzwischen im britischen Oxford zum Thema wehrhafte Demokratie.
- Philipp Türmer ist Jahrgang 1996 und stammt aus Offenbach am Main. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitet gerade an seinem zweiten juristischen Staatsexamen und einer Doktorarbeit an der Universität Frankfurt. Seit November ist er Bundesvorsitzender der Jusos.
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