Zerbombte Städte, über eine halbe Million Tote, 13 Millionen Geflüchtete: Acht Jahre Krieg haben Syrien massiv verändert. Eines aber ist gleich geblieben: Es regiert Baschar al-Assad. Ein perfides System der Angst, Korruption und ausländische Unterstützung halten den Diktator an der Macht.

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Kritik an Diktator Baschar al-Assad bleibt nicht ohne Folgen. Das weiß die Syrien-Kennerin Kristin Helberg aus eigener Erfahrung. Im Interview berichtet die Autorin und Journalistin über das Leben in ständiger Angst, Wege zum Frieden und die Frage, was Deutschland für das vom Krieg gebeutelte Land tun kann.

Frau Helberg, kann es in Syrien Frieden geben, solange Baschar al-Assad an der Macht ist?

Kristin Helberg: Syrien wird unter diesem Regime keinen Frieden finden, egal ob mit Baschar al-Assad an der Spitze oder ohne.

Was macht sie so sicher?

Das Regime hat in den Kriegsjahren viel Macht verloren. Es ist abhängig von ausländischen Unterstützern wie Russland und dem Iran, genau wie von lokalen Milizen und loyalen Geschäftsleuten. Sie sichern Assads Macht und haben kein Interesse an Aussöhnung, Gerechtigkeit oder Chancengleichheit. Sie wollen ihren Einfluss und Reichtum mehren und betrachten Syrien als Beute.

Steht die Mehrheit der Syrer denn noch hinter Assad oder lässt sich das schlicht nicht sagen, weil sich kaum einer traut, seine Meinung kundzutun?

Wie die Menschen auf Assad blicken, hängt starkt davon ab, wo sie den Krieg erlebt haben. Im Umland von Damaskus, vier Jahre abgeriegelt und hungernd? In den IS-Gebieten? Oder an der Küste, wo sie in der Filterblase des Regimes leben? Je nach Region war und ist der Alltag extrem unterschiedlich. Wer heute in die Küstenstadt Latakia reist, wo das Wetter schön ist, das Essen lecker und nachts Partys gefeiert werden, der mag das Gefühl haben, er sei acht Jahre lang belogen worden. Er wurde aber nicht belogen. Andere Teile des Landes wurden in Schutt und Asche gebombt, damit das Regime an der Macht bleiben konnte. Unterm Strich ist es schwer zu sagen, wie die Syrer wirklich über Assad denken. Die meisten wünschen sich Veränderung, sie wollen weder von einem Diktator noch von Dschihadisten unterdrückt werden. Aber öffentlich können sie das nicht sagen. Sie ducken sich weg. Denn das Regime regiert mit Angst.

Wer die Regierung kritisiert, muss Repressionen fürchten?

In Syrien haben die Wände Ohren, sagt man. Der Geheimdienst ist überall. Kein Geschäftsmann weiß, ob ihm nicht morgen der Laden geschlossen wird, kein Student, ob er am nächsten Tag exmatrikuliert wird, wenn er etwas Falsches sagt. Mindestens 80.000 Menschen sind noch verschwunden oder inhaftiert. Viele von ihnen werden in den Haftzentren der Geheimdienste gefoltert.

Jedem Gegenüber misstrauen müssen, immer auf der Hut vor dem Geheimdienst sein - inwieweit bestimmt das den Alltag und die Beziehungen zwischen den Menschen?

Man spricht mit den Nachbarn nur über das Wetter und selbst im eigenen Wohnzimmer nie über die herrschende Elite. Ein Beispiel: Als ich Anfang der 2000er Jahre in Syrien gelebt habe, war ich eng mit der Familie eines Küchenhändlers befreundet. Ich war eine gute Freundin seiner Frau. Oft saß ich bei ihnen im Wohnzimmer und habe ihn für meine journalistischen Beiträge interviewt. Er sagte immer: "Die Korruption ist schlimm, aber es geht voran, der Präsident will eigentlich Gutes." Zwischenzeitlich ist er nach Kanada ausgewandert. Von dort schrieb er mir via Whatsapp, dass er mir erst jetzt seine wahre Meinung über Assad sagen könne. Er ist meinetwegen vom Geheimdienst unter Druck gesetzt worden. Es hieß, ich sei eine israelische Spionin.

Sie haben dann auch noch am eigenen Leib erfahren, was es heißt, dem Regime nicht zu passen.

Ich hatte einen Text über die Erbfolge bei den Assads geschrieben, für die Deutsche Welle und deren Online-Magazin Qantara. Das hat auch eine arabische Internetseite. Mein Artikel ist schlampig übersetzt worden, wodurch der Text einen beleidigenden Ton bekam. Diese arabische Version haben syrische Geheimdienstler in die Hände bekommen. Daraufhin ist mir meine Akkreditierung entzogen worden, und zwar ohne dass mir jemand erklärt hätte, was das Problem ist. Ich kam erst dahinter, als mir ein Übersetzer im Informationsministerium sagte, ich solle mich auf Arabisch googeln. Fortan konnte ich nur noch als Ehefrau eines Syrers einreisen, durfte aber nicht mehr als Journalistin arbeiten. Und als ich im April 2011 am Flughafen stand und sagte, ich wolle meine Schwiegermutter besuchen, glaubte man mir nicht und schob mich ab.

2011. Das Jahr der Revolution. Ist von deren Geist, vom Mut jener, die damals auf die Straße gingen, heute noch etwas übrig?

Ich denke schon. Vor der Revolution war das gesamte gesellschaftliche Leben über Jahrzehnte von der Baath-Partei vereinnahmt worden. Von der Frauenunion über die Künstlervereinigung bis zum Studentenverband - wer sich engagieren wollte, landete in den Strukturen der Partei. 2011 haben sich viele Syrer als Bürger entdeckt und im Laufe der Jahre eigene zivilgesellschaftliche Netzwerke aufgebaut. Viele Organisationen können derzeit nicht oder nur eingeschränkt arbeiten. Aber der Glaube an Veränderung lässt sich nicht mehr auslöschen.

Sie setzen also Hoffnung in die Aktivisten von damals?

Ja. Aber Veränderung braucht Zeit, das ist eine Frage von Generationen.

Viele Syrer kennen nur autoritäre Strukturen.

Der syrische Aktivist Raed Fares, der im November 2018 erschossen wurde, hat einmal gesagt: Dieses Regime hat in jedem von uns einen kleinen Assad gepflanzt. Die syrische Gesellschaft ist nach einem halben Jahrhundert Despotismus durch und durch autoritär. Das betrifft das Verhältnis von Chef und Angestelltem, von Lehrer und Schüler, von Eltern und Kindern. Das zu durchbrechen ist mühsam. Wie wir Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg müssen Syrer kritisches Denken, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit wieder lernen. Demokratie fällt nicht von Himmel, man muss sie zunächst im eigenen Umfeld leben, in der Familie, unter Freunden, am Arbeitsplatz.

Kommen wir zur Rolle des Westens. Sie sagen, mit Assads Syrien dürfe es keinerlei Beziehungen geben, auch keine wirtschaftlichen. Trifft man damit nicht vor allem das Volk, das auf einen raschen Wiederaufbau hofft?

Es geht darum, was Assad plant: einen Wiederaufbau, der vor allem der Belohnung seiner Anhänger und der Bestrafung und Vertreibung seiner Gegner dient. Wir sehen das an den ersten großen Immobilienprojekten im Süden von Damaskus. Wer profitiert, sind jene Geschäftsleute, die Assad die Treue halten. Ein solcher Wiederaufbau stärkt genau die Machtstrukturen, die vor acht Jahren zum Aufstand geführt haben. Das nicht zu unterstützten, bedeutet nicht, die Syrer im Stich zu lassen. Die Vereinten Nationen versorgen die Menschen humanitär. Über 70 Prozent der Hilfe finanziert der Westen.

Sie fordern von Deutschland eine führende Rolle bei der Strafverfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil hier das Weltrechtsprinzip gilt. Sprich: Diese Verbrechen können auch dann vor deutschen Gerichten zur Anklage gebracht werden, wenn sie in Syrien verübt wurden und sowohl Opfer als auch Täter Syrer sind.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag kann nicht aktiv werden, weil Russland das im UN-Sicherheitsrat per Veto verhindert und Syrien kein Unterzeichnerstaat ist. Internationale Juristen haben deshalb damit begonnen, Kriegsverbrechen vor nationale Gerichte zu bringen. Die Bundesanwaltschaft untersucht in Syrien begangene Verbrechen seit 2011 und hat im Juni 2018 den ersten internationalen Haftbefehl erwirkt – gegen den Chef des Luftwaffengeheimdienstes Jamil Hassan. Inzwischen wird auch Assads persönlicher Sicherheitsberater und oberster Geheimdienstkoordinator Ali Mamluk international gesucht. Mit der juristischen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen kann der Westen derzeit am meisten für die Syrer tun. Denn damit zeigt man den Opfern, dass ihr Leid nicht vergessen ist und den Tätern - die ja vielfach noch immer Gräueltaten begehen oder befehligen -, dass sie eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden. Nebenbei erschwert oder verhindert man eine Rehabilitierung des Regimes, denn wer seine Beziehungen mit Damaskus normalisiert, lässt sich mit überführten Kriegsverbrechern ein.

Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin Kristin Helberg gehört zu den besten Syrien-Kennerinnen im deutschsprachigen Raum. Zwischen 2001 und 2008 hat sie in Damaskus gelebt. Lange Zeit war sie die einzige offiziell akkreditiere westliche Korrespondentin im Land. Heute arbeitet Helberg als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Ihr aktuelles Buch "Der Syrien-Krieg: Lösung eines Weltkonflikts" ist bei Herder erschienen, ebenso "Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land" und "Verzerrte Sichtweisen. Syrer bei uns".
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