- Die Grünen müssen in der Ampel-Koalition schmerzhafte Kompromisse eingehen und Grundsätze in der Atom- und Friedenspolitik zurückstellen.
- In der ehemals streitlustigen Partei regt sich kaum noch Widerstand gegen den Regierungskurs. Oder?
- Die Partei hat sich verjüngt und verändert. Vor allem der Regierungskurs in der Klimapolitik sorgt heute für Diskussionen.
Eine spekulative Frage: Hätten die Grünen vor einem Jahr gewusst, was sie 2022 alles mittragen, beschließen, umsetzen müssen – hätten sie sich dann so sehr aufs Regieren gefreut? Parteien sind wie schwere Tanker. Sie verändern ihren Kurs lieber langsam als schnell. Doch für die Grünen war das Krisenjahr 2022 bisher ein Jahr der schnellen und scharfen Kehrtwenden.
Die wichtigsten Beispiele: Nach der russischen Invasion in der Ukraine legte die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP ein 100 Milliarden teures Sondervermögen für die Bundeswehr auf. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock fordert beständig weitere schwere Waffen an die Ukraine zu liefern, der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck holt Kohlekraftwerke zurück ans Netz und bittet im autoritären Emirat Katar um Gas. Und in dieser Woche wird der Bundestag wohl mit Stimmen der Grünen beschließen, dass die drei letzten Atomkraftwerke ein paar Monate länger am Netz bleiben als geplant.
Das alles wäre erstaunlich genug. Doch erstaunlich ist auch: Die grüne Basis geht diesen Kurs größtenteils mit. Zumindest ist aus der Partei, die sich in ihrer rund 40-jährigen Geschichte häufig und laut gezofft hat, kaum lauter Widerspruch zu hören. Haben die Grünen das Streiten verlernt?
Parteilinker: "Streit ist noch da – aber nicht die Menschen, die ihn austragen"
Ein Anruf bei Karl-Wilhelm Koch in der Vulkaneifel. 1993 wurde er Mitglied der Grünen. Damals hätte er sich als klarer Realo bezeichnet. Also als Vertreter jener Strömung, die sich am politisch Machbaren orientiert. Doch über die Jahre marschierte praktisch die ganze Partei an ihm vorbei – bis Koch sozusagen ganz links stand.
Heute ist der 70-Jährige eine Parteitagslegende. Denn dort gibt er unablässig Widerspruch. Bei der Bundesdelegiertenkonferenz Mitte Oktober in Bonn standen Koch und eine Handvoll Mitstreiter hinter zahlreichen Anträgen gegen die Parteilinie: Sie waren gegen den Streckbetrieb für Atomkraftwerke, gegen die Lieferung schwerer Waffen im Ukraine-Krieg.
Koch räumt ein, dass er mit seinem Festhalten an alten Grundsätzen häufig nur noch eine Minderheitenposition innerhalb der Grünen vertritt. "Inhaltlich teilen viele Mitglieder meine Positionen, aber sie sehen vor allem die vermeintlichen Sachzwänge der Regierungsarbeit", sagt er. Der Streit innerhalb der Partei sei noch da. "Aber es gibt nicht mehr die Menschen, die ihn austragen."
Mitgliederzahl der Grünen hat sich in zehn Jahren verdoppelt
Die Grünen im Jahr 2022 sind eine andere Partei als zu ihrer westdeutschen Gründungsphase Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Damals habe man sich noch als "Anti-Parteien-Partei" verstanden, schreibt der Politikwissenschaftler Frank Decker in einem Beitrag für die Bundeszentrale für Politische Bildung.
Heute sind die Grünen in Bund oder Ländern mit allen Parteien außer der AfD koalitionsfähig und -willig. Sie sind nicht nur im Bund, sondern auch in zwölf von 16 Bundesländern an der Regierung beteiligt. Co-Parteichef Omid Nouripour sagt, natürlich seien die Grünen staatstragend geworden: "Wir tragen diesen Staat, wir tragen diese Gesellschaft, wir tragen diese Demokratie."
Die Grünen im Jahr 2002 sind aber auch eine andere Partei als noch vor zehn Jahren. Seit 2012 hat sich ihre Mitgliederzahl von rund 60.000 auf jetzt mehr als 125.000 verdoppelt. "Die 60.000 Neumitglieder sind offenbar weniger streitlustig und viele kennen die grüne Geschichte gar nicht mehr", glaubt Parteirebell Karl-Wilhelm Koch. "Sie haben sich größtenteils einer vermeintlich alternativlosen Realpolitik verschrieben."
Sarah-Lee Heinrich: "Kein vorausschauender Umgang mit Krisen"
Sind viele junge und pragmatische Mitglieder also der Grund für die große Harmonie und geringe Streitbereitschaft? So einfach ist es auch nicht. Die Jugendorganisation Grüne Jugend hat sich vor einem Jahr äußerst skeptisch zur Ampel-Koalition geäußert und im vergangenen Sommer auch nicht mit Kritik an den Plänen zur Gasumlage gespart, die die Bundesregierung inzwischen wieder zurückgezogen hat.
Auch in der Klimapolitik vermittelt die Grüne Jugend immer wieder die Botschaft: Die Bundesregierung macht zu wenig. "Die Gefahr besteht, dass sich die Partei zu sehr an dem orientiert, was in der Koalition möglich ist – und zu wenig an dem, was notwendig wäre", sagt Sarah-Lee Heinrich, Co-Sprecherin der Jugendorganisation. "Die Bundesregierung macht zwar dann und wann die richtigen Dinge wie jetzt mit der Gaspreisbremse – aber sie macht das erst auf Druck. Das ist kein vorausschauender Umgang mit Krisen."
Bei keinem Thema ist der innerparteiliche Widerspruch zum Regierungskurs derzeit so groß wie in der Klimapolitik. Vor Kurzem hat
Klimaschützer erwarten Handeln
Die Grünen streiten also weiterhin – aber über andere Themen als früher. Dem Pazifismus der 80er Jahre hat die Partei schon bei ihrer ersten Regierungsbeteiligung 1998 bis 2005 abgeschworen. Dafür stehen sie jetzt in der Klimafrage stärker unter Druck: Die Klimabewegung hat die Grünen in den vergangenen Jahren zu Wahlerfolgen getragen – jetzt erwartet sie Handeln.
Gerade die jungen Grünen drängen die Partei aber auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu einem linkeren Kurs. Auch deswegen kommt es in der Ampel-Koalition mit der FDP regelmäßig zu Reibereien. "Die Grünen setzen sich oft für das Richtige und Notwendige ein, wie zum Beispiel weitgehende Entlastungen – aber sie setzen sich nicht immer mit dem Richtigen durch", findet Sarah-Lee Heinrich. "Für die Menschen, die ihre Rechnungen kaum bezahlen können, zählt vor allem das Ergebnis, nicht nur die Bemühung. Je länger es dauert, dass sich spürbar für alle etwas verändert, desto desillusionierter sind die Leute."
Die Abgrenzung zum unbequemen Koalitionspartner FDP schweißt die Grünen auch intern zusammen. "Natürlich würden viele den ökologisch-sozialen Umbau der Gesellschaft – insbesondere auch in meinem Wahlkreis – gerne noch schneller vorantreiben", sagt Canan Bayram, Bundestagsabgeordnete aus der grün-linken Hochburg Berlin-Friedrichshain/Kreuzberg. Doch die Bremser würden in diesem Fall nicht bei Bündnis 90/Die Grünen sitzen.
Die Grünen im Spagat zwischen Wählern und Basis
Die Grünen befinden sich in einem Spagat. In der Öffentlichkeit kommt es gut an, wenn eine Partei in Krisenzeiten die eigene Ideologie zurückstellt. Die Grünen haben eine gewisse Kunst daraus gemacht. Je mehr Kehrtwenden sie im Frühjahr und Frühsommer hinlegten, je mehr Prinzipien sie zurückstellten und die Verantwortungsbereitschaft betonten, desto mehr stiegen die Umfragewerte. Erst als sie sich in der Frage der Laufzeiten der Atomkraftwerke an alte Grundsätze krallten, verloren sie an Zustimmung. Wählerinnen und Wähler mögen Pragmatismus lieber als Parteiideologie.
Doch für die eigenen Mitglieder sind Prinzipien eben doch wichtig. "Gerade wird ein Grundsatz nach dem anderen über Bord geworfen. Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, wo etliche das nicht mehr mitmachen", sagt der Parteilinke Karl-Wilhelm Koch. "Die Gefahr einer Spaltung – die ich weder aktuell befürworte noch hilfreich fände – wächst mit jeder Entscheidung gegen die Grundsätze."
Verwendete Quellen:
- Gespräche mit Karl-Wilhelm Koch und Sarah-Lee Heinrich
- Büro von Canan Bayram
- BPB.de: Etappen der Parteigeschichte der Grünen
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