- Die Grünen könnten bald in mehr Bundesländern mitregieren als SPD und Union.
- Bei der Bundesdelegiertenkonferenz in Bonn präsentiert sich die Partei selbstbewusst – auch wenn sie in der aktuellen Energiekrise unter großem Druck steht.
- "Wir werden nicht weichen, denn wir werden gebraucht", sagt die Parteivorsitzende Ricarda Lang.
Als die Grünen zum ersten Mal an der Macht waren, kamen auf Parteitagen noch drastische Mittel zum Einsatz. Im Mai 1999 in Bielefeld flog ein Farbbeutel gegen das Ohr des damaligen Bundesaußenministers Joschka Fischer– aus Protest gegen die deutsche Beteiligung an den Luftangriffen auf Serbien.
Mehr als zwei Jahrzehnte später ist das Bild ein anderes. Die Grünen regieren zwar wieder mit, Deutschland diskutiert wie damals über Krieg, Frieden und Atomenergie. Doch das aktuelle Parteitreffen an diesem Wochenende in Bonn ist eher ein Fest der Selbstvergewisserung. Die Grünen nehmen sich vor, miteinander zu ringen und zu streiten – und gehen dann doch sehr pfleglich miteinander um.
Der Traum von der grünen Volkspartei
Über der Bühne vor den 817 Delegierten im World Conference Center prangt das Motto: "Wenn unsere Welt in Frage steht. Antworten". Das passt zum aktuellen Selbstbewusstsein der Grünen – denn das ist groß. Das macht schon die Rede von Parteichefin
Den Wunsch, Volkspartei zu werden, haben die Grünen noch nicht aufgegeben. Seit Jahren bemühen sie sich, das soziale Profil zu schärfen. Ricarda Lang sagt den Satz: "Unsere DNA ist Gerechtigkeit." In Bonn ist nicht nur Yasmin Fahimi, Bundesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, zu Gast – sondern auch Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI).
Grüne sind für Teil der Bevölkerung zum Feindbild geworden
Ricarda Lang räumt in ihrer Rede aber auch ein, dass nicht nur ihr selbst, sondern auch vielen einfachen Mitgliedern viel Wind entgegenbläst. Die Grünen sind für einen Teil der Bevölkerung zum Feindbild geworden. Immer wieder werde man "beschimpft, angefeindet, körperlich bedroht". Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagt in ihrer Rede am Samstag, dass sie in den vergangenen Monaten drei Mal eine schusssichere Weste tragen musste: in der Ukraine, in Mali - und beim Landtagswahlkampf in Niedersachsen.
Ricarda Lang ruft ihre Mitglieder zu Standfestigkeit auf: Demokratie lasse sich nicht wegbrüllen. "Wir werden nicht weichen, denn wir werden gebraucht." Ihr Co-Vorsitzender Omid Nouripour findet den Vorwurf, die Grünen seien zu "staatstragend", völlig angebracht: "Wir tragen diesen Staat, wir tragen diese Gesellschaft, wir tragen die Demokratie."
Woher kommt das große Selbstbewusstsein? Die Partei ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen auf mehr als 125.000 Mitglieder. Wenn es in Niedersachsen mit der geplanten rot-grünen Landesregierung klappt, wird sie in 12 von 16 Bundesländern mitregieren. Das wären mehr Regierungsbeteiligungen als bei Union oder SPD. Der hessische grüne Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir gibt auf der Bühne in Bonn das Ziel aus, bei der Landtagswahl im Herbst 2023 auf Platz eins zu liegen – und wird dafür von den Delegierten gefeiert.
Zwar sinken inzwischen die Umfragewerte der Grünen. Aber sie sind weiter auf hohem Niveau. Letzteres ist keine Selbstverständlichkeit. Denn erstens hat der russische Krieg gegen die Ukraine Deutschland in eine Energie- und Inflationskrise gestürzt. Das unübersichtliche Krisenmanagement hat die Zufriedenheit mit der rot-grün-gelben Bundesregierung laut ARD-Deutschlandtrend zudem auf einen Tiefpunkt befördert.
Zweitens haben die Grünen an der Macht schon mit einigen Grundsätzen brechen müssen. Sie sind jetzt für Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet, rüsten die Bundeswehr auf, holen Kohlekraftwerke zurück ans Netz. Zwei Atomkraftwerke, die Ende dieses Jahres eigentlich abgeschaltet werden sollten, will der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck bis ins kommende Frühjahr in der Einsatzreserve halten. Und der Koalitionspartner FDP will noch mehr: neue Brennstäbe und damit längere Laufzeiten für alle drei verbliebenen Atommeiler.
Eine durch und durch pragmatische Partei – außer beim Thema Atom
Davon wollen die Grünen allerdings nichts wissen. Eine Laufzeitverlängerung steht beim Parteitag nicht zur Debatte. Bei Waffenlieferungen an die Ukraine und auch bei der aktuellen Nutzung der Kohlekraftwerke haben sie sich in den vergangenen Monaten schnell von alten Gewissheiten verabschiedet. Sie haben die Kehrtwenden sogar erfolgreich als Zeichen für Pragmatismus und Realitätssinn verkauft.
Beim Atom-Thema aber halten die Grünen hartnäckig an ihren Prinzipien fest, auch wenn Umfragen zufolge eine große Mehrheit der Deutschen inzwischen eine Laufzeitverlängerung der letzten Kraftwerke für richtig hält. Als die Partei in den 70er und 80er Jahren aus den neuen sozialen Bewegungen der friedens- und umweltbewegten Bundesrepublik entstand, war die Anti-Atom-Bewegung ein tragender Pfeiler. Daran wollen auch die jungen Mitglieder nicht rütteln, stellt Parteichefin Ricarda Lang klar.
Was der FDP nicht weit genug geht, ist für die Grünen schon eine Zumutung. Manche Mitglieder lehnen auch die Einsatzreserve ab. Dieser Antrag findet auf dem Parteitag aber keine Mehrheit. Der Streckbetrieb für zwei Meiler bis in den April 2023 wird abgesegnet. Mehr wollen die Grünen aber auf keinen Fall. Ex-Bundesumweltminister Jürgen Trittin schärft den entsprechenden Antrag des Bundesvorstandes noch einmal nach und stellt klar: Spätestens am 15. April 2023 muss Schluss sein mit der Nutzung der Kernenergie in Deutschland.
Den Krach mit der FDP in der Ampel-Koalition beizulegen, dürfte mit dem Parteitag nicht einfacher geworden sein. Den Parteifrieden haben die Grünen dagegen gewahrt.
Frust bei Gegnern der Waffenlieferungen
Auch am Samstag überwiegt die Harmonie, selbst beim schwierigen Thema Krieg und Frieden. Nicht jedes Mitglied ist glücklich darüber, dass die Grünen in der Bundesregierung Waffen an die Ukraine und damit an eine Kriegspartei liefern. Doch für einen Antrag gegen Waffenlieferungen sprechen sich nur sehr wenige Delegierte aus. Viel Applaus erhält dagegen der Europa-Abgeordnete Sergey Lagodinsky: "Frieden muss verteidigt werden", sagt er – und das gelinge nicht "mit Sonnenblumen", sondern nur mir Waffen.
Am Ende bleiben alle Anträge gegen den Regierungskurs im Ukraine-Krieg meilenweit von einer Mehrheit entfernt. Bei der kleinen Gruppe um den Parteilinken Karl-Wilhelm Koch ist die Frustration groß. Von einer "Choreografie" ist die Rede. Die Partei ordne sich völlig dem Regierungskurs unter.
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