Die Spannungen im Nahen Osten nehmen immer weiter zu: Israel ist mit Bodentruppen in den Süden des Libanon einmarschiert, um dort gezielt gegen die Hisbollah vorzugehen. Damit wächst die Sorge vor einem Flächenbrand in der Region weiter. Politikwissenschaftler Jan Busse erklärt, welche Akteure mit in einen Krieg gezogen werden könnten und worauf es jetzt ankommt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Israel ist im Libanon einen weiteren Schritt gegangen: Am Dienstagmorgen (1.10.) teilte die Armee auf "X" mit, dass sie mit einer "begrenzten" Bodenoffensive im Süden des Libanon begonnen hat. Die Sorge vor einem Krieg im Libanon wächst damit weiter. Seit der massenhaften Explosion von Funkgeräten Mitte September hat sich die Lage zwischen Israel und der proiranischen Hisbollah immer weiter zugespitzt.

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Mit der jetzigen Bodenoffensive hatte Israel in den letzten Tagen immer wieder gedroht. Israel war am Freitag (27.9.) die Tötung von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah gelungen. Nasrallah war einer der Gründer der Hisbollah, die vom Westen mehrheitlich als Terrororganisation eingestuft wird. Weitere hochrangige Hisbollah-Mitglieder sollen bei dem Angriff des unterirdischen Hauptquartiers ums Leben gekommen sein.

Laut Regierung reicht die Tötung des Kopfes jedoch nicht aus, es müsse die militärische Infrastruktur zerstört werden. Die jetzigen Ziele im Libanon sollen sich in grenznahen Dörfern befinden und stellen aus Sicht von Israel eine Bedrohung für Gemeinden im Norden des eigenen Landes dar.

Tötung hochrangiger Militärs

Bereits in der Woche davor hatte Israel den Tod des Hisbollah-Eliteführers Ibrahim Aqil gemeldet und die Miliz damit weiter geschwächt. Laut israelischen Angaben habe die Hisbollah eine Invasion im Norden des Landes geplant, vergleichbar mit dem Angriff der Hamas im Süden des Landes am 7. Oktober des vergangenen Jahres. Dieser Invasion sei man zuvorgekommen.

Die Hisbollah kündigte an, trotz des Verlusts hochrangiger Mitglieder weiterzukämpfen und beschoss israelisches Gebiet weiterhin. Auch am Wochenende gingen die gegenseitigen Kampfhandlungen weiter: Während die Hisbollah den Norden Israels bombardierte, führte Israel weiter Luftangriffe auf vermeintliche Hisbollah-Ziele im Libanon durch. Dabei sollen nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums 53 Menschen getötet und 100 weitere verletzt worden sein.

Eskalationsspirale dreht sich weiter

"Die Gefahr einer Eskalation zwischen Israel und dem Libanon war in den letzten 18 Jahren nie so groß wie jetzt. Wir können nicht ausschließen, dass es zu einer weiteren Eskalation kommt, die in einem Krieg mündet", warnt Politikwissenschaftler und Nahost-Experte Jan Busse.

Das spiegelt sich aus seiner Sicht auch darin wider, dass zumindest bis zur Tötung von Nasrallah auf internationaler Ebene auf Hochtouren an einem Waffenstillstand gearbeitet wird. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hatte einen Vorschlag für einen Waffenstillstand, der von den USA und Frankreich vermittelt worden war, zuletzt zurückgewiesen. Dieser sah eine 21-tägige Unterbrechung der Kämpfe jenseits der israelisch-libanesischen Grenze vor.

Der Entwurf für das Waffenstillstandsabkommen war auch von der EU, der Bundesregierung und arabischen Staaten unterstützt worden. "Dass so viele schwergewichtige Akteure darauf drängen, dass es zu einem Waffenstillstand kommt, ist ein wichtiges Signal an alle beteiligten Konfliktparteien", meint Busse.

Gespräche mit den USA

US-Präsident Joe Biden hatte zuletzt erneut Gespräche mit Netanjahu angekündigt. Die USA dürften gegenüber Israel aber mindestens verstimmt sein. Beispielsweise hatte Israel die USA über die groß angelegte Operation in Beirut erst informiert, als diese bereits im Gange war. Eine begrenzte Bodenoffensive hatte man in Washington zuletzt zumindest für "möglich" gehalten.

"Israel hätte wahrscheinlich ein Interesse daran, in einem solchen Konflikt von den USA unterstützt zu werden, die Hisbollah im Gegenzug vom Iran. Da sehe ich ein sehr großes Eskalationsrisiko", warnt Experte Busse.

Es sei nicht ausgeschlossen, dass ein Krieg auf eine Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hisbollah begrenzt wäre. "Zunächst einmal wäre die Frage, ob sich die libanesischen Streitkräfte dann nicht auch in diesen Krieg einschalten, wenn libanesisches, souveränes Territorium angegriffen wird", gibt er zu bedenken.

Achse des Widerstands

Die Hisbollah ist Teil der sogenannten Achse des Widerstandes, die vom Iran angeführt wird. Zu ihr zählen neben der Hisbollah auch die Houthis im Jemen sowie schiitische Milizen, die vorrangig im Irak und Syrien operieren.

"Die Houthis haben in der Vergangenheit bereits immer wieder Raketen auf Israel abgefeuert und schiitische Milizen haben immer wieder versucht, US-Militärstützpunkte in der Region anzugreifen", erinnert Busse. Auch Israel hat kürzlich Einrichtungen von den Houthis im Jemen bombardiert, darunter mehrere Kraftwerke und einen Seehafen.

Worauf es nun ankommt

Busse räumt ein: "Es ist sehr schwierig, die aktuelle Auseinandersetzung einzudämmen." Es bestehe auch die Gefahr, dass der Iran sich aktiv an einem solchen Krieg beteiligen würde. Viel hänge nun davon ab, wie die Hisbollah weiter reagiere. "Sie hält sich aktuell sehr stark zurück und es ist unklar, ob es daran liegt, dass sie so massiv geschwächt wurde und nun nicht wirklich reagieren kann, oder ob sie einfach abwartet und taktiert", erklärt er.

Zuletzt waren Beobachter noch davon ausgegangen, das Drohen mit einer Bodenoffensive sei Teil des Versuchs, die Hisbollah zu einem Einlenken zu bewegen. Doch jetzt hat Israel seine Drohungen in die Tat umgesetzt. "Erklärtes Ziel der israelischen Regierung ist inzwischen die Forderung einer vollständigen Entwaffnung der Hisbollah", sagt Busse.

"Eskalieren, um zu deeskalieren"?

Netanjahu hatte seine eigene Taktik vor der UNO-Generalversammlung mit den Worten "eskalieren, um zu deeskalieren" beschrieben. Busse steht dem skeptisch gegenüber. "Ich halte es für sehr riskant anzunehmen, dass das funktionieren kann", sagt er. Er halte es für wahrscheinlicher, dass sich die Eskalationsspiele dann noch weiterdrehe. Auch die UNO hatte Israel im Vorfeld der Bodenoffensive vor einem solchen Schritt gewarnt.

Busse vermutet, dass die sukzessive Eskalation Israels auch das Ziel hat, die Situation im Libanon von der Situation im Gazastreifen zu entkoppeln. "Bisher hat die Hisbollah immer gesagt: ‚In dem Moment, wo es einen Waffenstillstand im Gazastreifen gibt, hören wir mit dem Raketenbeschuss auf‘. Darauf möchte sich Israel nicht einlassen und versucht, diese beiden Konfliktherde voneinander zu entkoppeln", so der Experte.

Proteste auch in Pakistan

Dass die Auswirkungen bereits jetzt über den Libanon hinausgehen, zeigten beispielsweise die Demonstrationen in Pakistan in Reaktion auf den Tod des Hisbollah-Chefs Nasrallah. Die örtliche Polizei setzte dabei Tränengas und Wasserwerfer ein. Angeführt wurden die Proteste vom "Majlis Wahdat-e-Muslimeen", einer schiitischen islamischen politischen Organisation in Pakistan.

Hilfsorganisationen wie "Relief International" warnen eindringlich vor den "extrem schlimmen Konsequenzen" einer weiteren Eskalation. Der Libanon befinde sich an der Grenze der Belastbarkeit, die humanitäre Lage habe sich bereits verschlechtert. Durch die Zerstörung von Infrastruktur und Wohnhäusern waren zehntausende auf die Straße gezwungen worden.

Einfluss der USA

"Den größten Einfluss auf Israel können nun die USA als wichtigster Verbündeter nehmen", sagt Busse. Israel sei nicht nur diplomatisch von den USA abhängig, sondern auch bei der Frage von Waffenlieferungen. "Wenn die US-Regierung die Lieferung von Waffen oder Munition an Bedingungen knüpft, kann sie damit die Abwägungen von Premier Netanjahu beeinflussen", ist er sich sicher.

Derzeit rücke der weiterhin andauernde Krieg im Gazastreifen, inklusive des Schicksals der dortigen Zivilbevölkerung und der Geiseln, völlig in den Hintergrund. "Es erscheint momentan extrem unwahrscheinlich, dass es zu einem Waffenstillstand im Gazastreifen kommt, der eine Befreiung der Geiseln herbeiführen würde und die Not der dortigen Zivilbevölkerung lindern könnte", so der Experte.

Über den Experten:

  • Dr. Jan Busse ist Politikwissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Internationale Politik und Konfliktforschung der Bundeswehr Universität München.

Weitere Quellen:

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