Zehn Morde, zwei Brandanschläge mit zahlreichen Verletzten, unzählige Ermittlungspannen: Elf Jahre nach dem mutmaßlich ersten Mord der Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe beginnt am 6. Mai der Prozess gegen Zschäpe und vier weitere Angeklagte. Inzwischen wurden die Presseplätze für den Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht neu vergeben, nachdem zunächst keine ausländischen Medien akkreditiert wurden. Die jüngste Panne in einer langen Reihe von Ermittlungsfehlern.

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Die mutmaßliche Terroristin des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) muss sich wegen zehnfachen Mordes, versuchten Mordes in 28 Fällen, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, räuberischer Erpressung in mehreren Fällen und besonders schwerer Brandstiftung verantworten - knapp eineinhalb Jahre nach der Enttarnung der Terrorgruppe im November 2011. Zu diesem Zeitpunkt lebte Zschäpe bereits seit über 13 Jahren im Untergrund. Dass sie und ihre beiden Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nicht viel früher aufflogen, lag auch an zahlreichen Ermittlungspannen.

Die Neonazis Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe tauchen Anfang 1998 unter. Zuvor hatte die Polizei in Jena deren Bombenlabor ausgehoben. Im selben Jahr gründen sie den NSU. Zwei Jahre später beginnt das Trio laut Anklageschrift zu morden: Erstes Opfer ist der türkischstämmige Blumenhändler Enver S. (38) aus Nürnberg. Den zehnten und vermutlich letzten Mord begehen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe am 25. April 2007: Die Polizistin Michèle K. (22) wird auf einem Parkplatz in Heilbronn erschossen.

Am 4. November 2011 ist der NSU-Terror vorbei: Mundlos und Böhnhardt werden nach einem gescheiterten Sparkassen-Überfall in Eisenach erschossen in einem Wohnmobil gefunden. Dabei entdecken Beamte die Dienstwaffe der ermordeten Polizistin K. Am selben Tag steckt Zschäpe die Zwickauer Wohnung des Trios in Brand. In den Trümmern wird später die Pistole vom Typ Ceska gefunden, mit der neun der zehn Morde begangen worden sein sollen.

Vier U-Ausschüsse sollen Aufklärung bringen

Erst jetzt fliegt der NSU auf - zuvor ist in den Medien zumeist von "Döner-Morden" zu lesen. Am 8. November 2011 stellt sich Zschäpe in Jena der Polizei. Nach und nach kommt das ganze Ausmaß des Rechtsterrorismus ans Licht - und wie die Sicherheitsbehörden bei den Ermittlungen geschlafen hatten.

Am 23. Februar 2012 verspricht Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der Gedenkfeier für die NSU-Opfer den Hinterbliebenen eine "umfassende Aufklärung" zu. Knapp einen Monat zuvor hatte der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags seine Arbeit aufgenommen. Später werden auch in Thüringen, Sachsen und Bayern Untersuchungsausschüsse eingerichtet.

Laut "Tagesschau.de" waren Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Ende der 1990er Jahre im "Thüringer Heimatschutz" aktiv. Der Verfassungsschutz hatte mit dem Neonazi Tino Brandt einen V-Mann in der Organisation, in der auch zahlreiche spätere NPD-Funktionäre aktiv gewesen sein sollen.

Anfänge der NSU-Mordserie

Im Januar 1998 dann die erste heiße Spur - zumindest zu Beate Zschäpe: In Jena (Thüringen) hebt die Polizei die Bombenwerkstatt des Trios aus. Es werden Rohrbomben sichergestellt. Die drei späteren NSU-Terroristen können jedoch fliehen - auch wenn die Ermittler angeblich die Möglichkeit hatten, Zschäpe festzunehmen. Im Verfassungsschutzbericht wird das Trio als Mitglieder des "Thüringer Heimatschutzes" genannt. Erst Anfang 2013 kommen mehrere Listen von möglichen Kontaktpersonen und Unterstützern des NSU ans Licht, die Ermittler bereits 1998 in einer Garage der Rechtsterroristen gefunden haben sollen - damit hätten die Beamten noch vor den ersten Morden auf die Spur der Terrorgruppe kommen können. Heute werden über 100 Personen zum NSU-Netzwerk gezählt, darunter wohl auch mehrere V-Leute.

Zwischen September 2000 und April 2006 soll das NSU-Trio acht Türken und einen Griechen ermordet haben. Zudem soll der NSU im Januar 2001 sowie im Juni 2004 zwei Anschläge in Köln begangen haben. Bei dem ersten Sprengstoffanschlag auf ein Lebensmittelgeschäft wird eine 19-Jährige Deutsch-Iranerin, Tochter der Besitzer, schwer verletzt. 2004 detoniert eine Nagelbombe in der von vielen Türken bewohnten Kölner Keupstraße. 22 Menschen werden verletzt.

Im April 2007 folgt der zehnte NSU-Mord: Auf einem Parkplatz in Heilbronn wird die Polizistin Michèle K. erschossen. Ein weiterer Beamter wird lebensgefährlich verletzt. Am Tatort wird die DNA einer Frau gefunden. Die Ermittlungen konzentrieren sich auf diese Spur. Schnell ist die Rede von einer Serientäterin, der "Frau ohne Gesicht" oder dem "Phantom von Braunschweig". Denn dieselbe DNA wird an über 30 weiteren Tatorten entdeckt - ohne dass sie einer Person zugeordnet werden kann.

Die NSU wird enttarnt

Es ermitteln mehrere Sonderkommissionen, Staatsanwaltschaften und Polizisten in mehreren Ländern (Deutschland, Frankreich, Österreich), bis im März 2009 die Staatsanwaltschaft in Heilbronn mitteilt, dass die DNA vermutlich bereits beim Verpacken auf das zur Spurensicherung eingesetzte Wattestäbchen gelangt sei; die Gen-Spuren stammen wahrscheinlich von einer Mitarbeiterin des an der Herstellung beteiligten Unternehmens.

Erst am 7. November 2011 scheint das Rätsel um den Heilbronner Mord gelöst: In dem Wohnmobil, in dem sich Mundlos und Böhnhardt umgebracht haben sollen, werden die Dienstpistolen der Heilbronner Polizistin und ihres Kollegen gefunden.

Vier Tage später gibt die Bundesanwaltschaft bekannt, dass es möglicherweise eine Verbindung zwischen dem Polizistenmord von Heilbronn und der Mordserie an Migranten gebe. Die Ermittler stelleb in der Zwickauer Wohnung der Trios DVDs sicher, auf denen sich der NSU zu den rassistischen Mordanschlägen bekennt.

Ermittlungspannen rund um die NSU

Hätten die NSU-Morde verhindert werden können? Gab es einen Willen zur Aufklärung?

Das verneint der am 15. Mai 2012 vom ehemaligen Bundesrichter Gerhard Schäfer vorgelegte Bericht zur Arbeit der Sicherheitsbehörden in Thüringen. Gerüchte, wonach die drei NSU-Terroristen von staatlichen Stellen gedeckt worden seien, entkräftet der Jurist: Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt arbeiteten demnach nicht als V-Leute. Doch der Informationsaustausch zwischen den ermittelnden Behörden und der Justiz habe "einiges zu Wünschen übrig" gelassen.

Später wird bekannt, dass der Schäfer-Kommission für ihre Untersuchung nicht alle Akten zur Verfügung standen. Bereits am 28. Juni 2012 stellt sich heraus, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz Akten zu den NSU-Ermittlungen vernichtet hatte, die von der Bundesanwaltschaft angefordert worden waren. "Sie sind aufgefordert worden, Akten zu suchen, sie haben Akten gefunden und sie haben die Akten vernichtet", sagte der Vorsitzende des NSU-Bundestagsausschusses Sebastian Edathy.

Eine lange Reihe von Rücktritten

Anfang November wird bekannt, dass auch der Berliner Landesverfassungsschutz Akten zum Thema Rechtsextremismus vernichtet hat - und zwar am 29. Juni, einen Tag nach Bekanntwerden der Schredderaktion in der Bundesbehörde. Die Akten sollen aber keine Erkenntnisse zum NSU enthalten haben. Bereits im Jahr 2010 waren in der Berliner Landesverfassungsschutzbehörde Akten über die Neonazi-Organisation "Blood & Honour" geschreddert.

Am 3. Juli werden die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss des Bundestages über eine weitere Panne unterrichtet. Demnach wiesen die ermittelnden Behörden - unterstützt von Profilern von LKA und BKA - bereits nach dem Kölner Nagelbombenanschlag 2004 auf eine Tat mit eindeutig fremdenfeindlichem Hintergrund hin: "Wir hatten in Köln die deutlichste Fallanalyse, die wir in den Akten haben", berichtet die SPD-Abgeordnete Eva Högl dem Ausschuss. "Die Täter wollten so viele Türken treffen wie möglich."

Von Juli 2012 bis November 2012 folgen zahlreiche Rücktritte von Verfassungsschützern: So nehmen neben dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, auch Thüringens Verfassungsschutz-Präsident Thomas Sippel ebenso wie Sachsens Verfassungsschutzpräsident Reinhard Boos den Hut. Auch Sachsen-Anhalts Verfassungsschutz-Chef Volker Limburg und Berlins Verfassungsschutz-Chefin Claudia Schmid scheiden aus dem Amt.

Lehren aus den NSU-Ermittlungspannen

Ende Juli 2012 zieht Edathy ein Zwischenfazit der Aufarbeitung des NSU-Terrors - und nennt bei "Tagesschau.de" das Hauptproblem bei den Ermittlungen. Demnach sei die "Sicherheitsarchitektur keineswegs optimal". Konkret kritisert der SPD-Politiker die Kooperation zwischen Polizei und Verfassungsschutz, aber auch zwischen den Verfassungsschutz-Ämtern.

Abhilfe soll die Neonazi-Verbunddatei schaffen, die Innenminister Hans-Peter Friedrich am 19. September startet. Verfassungsschutzämter, Polizeibehörden von Bund und Ländern und der militärische Abschirmdienst (MAD) sind verpflichtet, darin ihre Erkenntnisse über gewaltbereite Rechtsextremisten zu speichern. Zugriff haben die Ermittlungsbehörden auf Grunddaten wie Name, Geburtsdatum und Anschrift. Hinweise, ob jemand als V-Mann von einer Ermittlungsbehörde eingesetzt werde, fehlen jedoch.

Eine weitere Maßnahme von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich: die Neugründung des "Abwehrzentrums gegen Extremismus und Terrorismus" am 15. November. Experten von Bund und Ländern sollen dort zusammenarbeiten. Doch nicht alle sind von der Idee überzeugt, sechs Länder machen zunächst nicht mit. Ebenfalls keine Einigkeit herrscht bei der Frage nach einem neuen NPD-Verbotsverfahren. Im November 2012 sprechen sich die Innenminister für einen neuen Anlauf aus, die Bundesregierung entscheidet sich im März 2013 dagegen, einen eigenen Verbotsantrag zu stellen.

Anklage gegen Zschäpe und vier Helfer

Am 8. November 2012 erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage gegen Beate Zschäpe - als Mittäterin der NSU-Morde. Der 37-jährige Ralf Wohlleben sowie der 32-jährige Carsten S. werden wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Sie sollen die Pistole des Typs "Ceska 83" beschafft haben, die bei der Mordserie verwendet wurde. Als mutmaßliche Unterstützer ebenfalls angeklagt: André E. (33) und Holger G. (38). Am 31. Januar 2013 lässt das Oberlandesgericht (OLG) München die Klage zu.

Der Prozess soll zunächst am 17. April 2013 beginnen. Das Oberlandesgericht vergibt die Presseplätze nach Eingang der Akkreditierungsanfragen - alle türkischen und griechischen Medien gehen leer aus. Die türkische Zeitung "Sabah" legt daraufhin vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein. Dieses entscheidet, dass eine angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern vergeben werden muss. (cai)

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