Die Einführung des Bürgergeldes war die größte Sozialstaatsreform der Ampel. Doch ist sie auch gelungen? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Im Interview sagt der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber, ob das Bürgergeld Nichtstun belohnt – und ob es Migranten nach Deutschland zieht.

Ein Interview

Eines steht fest: Das Bürgergeld ist umstritten. Der Nachfolger von Hartz IV ist noch kein Jahr in Kraft und schon gibt es erste Stimmen, die ihn ganz abschaffen wollen – oder zumindest beschneiden. So fordert etwa CDU-Chef Friedrich Merz, auf geplante Leistungserhöhungen zu verzichten. Ein zentraler Vorwurf: Arbeit lohne sich nicht genug.

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Doch stimmt das? Ist das Bürgergeld ein Job-Killer, da es auskömmlich genug ist, um auch ohne Arbeit gut über die Runden zu kommen? Darüber haben wir mit dem Arbeitsmarktforscher Enzo Weber gesprochen.

Herr Weber, am 01. Januar 2024 soll das Bürgergeld um zwölf Prozent erhöht werden. Lohnt sich Arbeit dann noch?

Enzo Weber: Der Regelsatz steigt im nächsten Jahr stärker als die Nominallöhne. Das könnte problematisch sein – allerdings ist der Blick allein auf 2024 zu wenig. Im letzten Jahr ist der Mindestlohn um 25 Prozent auf zwölf Euro gestiegen. Der Regelsatz im damaligen System, bei Hartz IV, aber nur um 0,7 Prozent. Das heißt also: Der Abstand zwischen Sozialtransfers und den niedrigsten Löhnen – der Lohnabstand – hat sich zuvor deutlich vergrößert.

Und trotzdem wirkt es so, als hätten Leistungsempfänger mit dem Bürgergeld jetzt viel mehr Geld.

Mit der Umstellung aufs Bürgergeld gab es – übrigens mit großer Mehrheit im Bundestag beschlossen – eine inflationsbedingte Anpassung des Regelsatzes in diesem und im nächsten Jahr. Die hätte es aber auch bei Hartz IV geben müssen. Die Inflation trifft arme Haushalte stärker als reichere, da sie einen größeren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel und Energie ausgeben. Insofern sorgt die Anpassung beim Bürgergeld hier für Ausgleich.

Enzo Weber: "Wer arbeitet, hat mehr Geld als derjenige, der es nicht tut"

Vor allem aus der CDU heißt es jetzt aber oft: Das Lohnabstandsgebot ist beim Bürgergeld nicht mehr gewahrt.

Wer arbeitet, hat mehr Geld als derjenige, der es nicht tut. Das hat auch damit zu tun, dass man auf bestimmte Leistungen, etwa Wohngeld oder Kinderzuschlag, nur Anspruch hat, wenn man arbeitet. Betrachtet man die Entwicklung von Löhnen und Sozialleistungen in den letzten Jahren, dann ist der Lohnabstand sogar leicht gestiegen. Arbeit lohnt sich demnach. Was aber stimmt: nicht immer gleichermaßen.

Was meinen Sie damit?

Es gibt Fälle, bei denen sich die Aufnahme einer Arbeit immer klar lohnt. Beispielsweise für einen Single, der vom Bürgergeld in einen Vollzeitjob auf Mindestlohnniveau wechselt. Es gibt aber Konstellationen – etwa größere Haushalte mit Kindern, bei denen auch Sozialleistungen wie Kinderzuschlag oder das Wohngeld eine Rolle spielen –, da ist der Vorteil nicht mehr so groß.

Woran liegt das?

Wenn Erwachsene in diesem Haushalt mehr Einkommen durch mehr Arbeit erzielen, erhalten sie weniger Sozialtransfers – auch für Wohnung und Kinder. Es gibt Einkommensbereiche, in denen von einem Zusatzverdienst kaum mehr Geld übrigbleibt. Das ist kein Problem, das erst durch das Bürgergeld entstanden ist. Es wurde mit dem Bürgergeld aber auch noch nicht gelöst.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fließen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäß dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Massenkündigungen wegen Bürgergeld?

Arbeitsminister Hubertus Heil hat davor gewarnt, seinen Job wegen des Bürgergeldes zu kündigen. Wer das mache, müsse "bescheuert" sein. CDU-Chef Friedrich Merz widersprach; derjenige, der kündige, könne schlicht rechnen.

Zu dieser Debatte ein Wort des empirischen Forschers: Es entsteht gerade der Eindruck, als würden massenhaft Leute ihre Jobs kündigen, um ins Bürgergeld zu wechseln. Oder dort verharren, statt eine Arbeit aufzunehmen. Die Daten geben das nicht her. Im Gegenteil: Es sind noch nie so wenig Menschen wie jetzt aus Arbeit in die Arbeitslosigkeit mit Bürgergeld gegangen.

Kritiker des Bürgergeldes finden außerdem: Es ist ein Schritt in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens – ist es das?

Dazu muss man sich erstmal anschauen, was sich beim Bürgergeld überhaupt geändert hat. Eine so fundamentale Reform war es auch wieder nicht. Das Bürgergeld wird nur gezahlt bei Bedürftigkeit – das war auch bei Hartz IV so. Es gibt noch immer die Pflicht zur Mitwirkung bei der Jobsuche. Es ist sicher kein bedingungsloses Grundeinkommen.

Was unterscheidet das Bürgergeld dann vom alten Hartz-IV-System?

Jobaufnahme und Qualifizierung sind im neuen System gleichberechtigt. Statt jeden Job annehmen zu müssen, können sich Transferempfänger auch für eine Qualifizierung entscheiden – was sinnvoll ist. Bei Niedrigqualifizierten haben wir mit fast 20 Prozent die höchste Arbeitslosenquote. Und der Bedarf an ausgebildeten Arbeitskräften nimmt weiter zu.

Wo liegen weitere Unterschiede?

Ebenfalls neu sind höhere Freigrenzen beim Schonvermögen im ersten Jahr und auch eine gewisse Toleranz, wenn die Wohnung größer und teurer ist, als es die Obergrenze für die Wohnkosten vorsieht. Ein Jahr zahlt der Staat dann trotzdem. Ich würde sagen: Das System ist etwas weniger strikt als Hartz IV. An einigen Schrauben wurde gedreht, aber es ist ganz sicher keine Revolution.

Experte zu Migration: Sozialleistungen "können eine gewisse Rolle spielen"

Trägt das Bürgergeld zur Migration nach Deutschland bei?

Der überwiegende Fluchtgrund sind Gewalt und politische Verfolgung – und nicht die Höhe der Sozialleistungen. Diese können aber eine gewisse Rolle spielen, wenn Menschen sich erst einmal zur Flucht entschlossen haben und dann ihr Zielland wählen. Damit Geflüchtete, wenn sie hier sind, aber nicht längerfristig Bürgergeld beziehen, wäre es das Beste, sie so schnell wie möglich in Arbeit zu bringen und berufsbegleitend in Sprache und Qualifizierung zu investieren. Lange Arbeitsverbote und Asylverfahren sind nicht hilfreich. Es geht auch darum, ein positives Bild zu vermitteln: Dass die, die neu gekommen sind, zu dieser Gesellschaft beitragen.

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In Deutschland gab es zuletzt 2,61 Millionen Arbeitslose, darunter rund 900.000 Langzeitarbeitslose. Wie schaffen wir es, diese Menschen wieder in Arbeit zu bringen?

An dieser Stelle haben wir ein Problem. Die Chancen von Arbeitslosen, momentan einen Job zu bekommen, sind deutlich niedriger als vor Corona. Seit fast vier Jahren befinden wir uns im Dauer-Krisenmodus. Dadurch verfestigt sich auch Arbeitslosigkeit. Einen großen Befreiungsschlag wird es da nicht geben, aber es kommt auf viele kleine Schritte an: Es ist sinnvoll, in individuelle Betreuung zu investieren – gerade auch bei den Menschen, die schwierig zu vermitteln sind. Wir brauchen außerdem mehr Qualifizierung und gute finanzielle Anreize.

Finanzielle Anreize, eine Arbeit aufzunehmen

Wie könnten die aussehen?

Drei Punkte dazu: Es gibt sicherlich Möglichkeiten, den Mindestlohn – mit Augenmaß und wissenschaftlicher Evaluation – etwas stärker anzuheben. Das wäre auch ein Beitrag gegen die Lohnungleichheit. Was wir außerdem beobachten können: Gerade im Niedriglohnbereich bleiben Menschen oft im erstbesten Job hängen. Sie nehmen nicht hinreichend wahr, welche Perspektiven – auch finanziell – der Arbeitsmarkt bietet. Daher wäre es zweitens gut, wenn mit einem Entgelttransparenzgesetz in Stellenanzeigen auch die Entlohnung – oder zumindest der Bereich, der möglich ist – transparent wäre. Das ist ein Anreiz, sich zu qualifizieren und weiterzuentwickeln.

Und der dritte Punkt?

Wir sollten die verschiedenen Sozialleistungen so abstimmen, dass es transparente und durchgängige Einkommensanreize gibt, also weniger eines zusätzlichen Verdienstes auf die Sozialleistungen angerechnet wird. Zusätzlich wäre es überlegenswert, denen, die schon lange arbeitslos sind, bei Jobaufnahme eine Art Anschubbonus auszuzahlen. Sie könnten – zumindest eine Zeit lang – etwas mehr vom Bürgergeld behalten. Und wenn die Probezeit nach sechs Monaten absolviert ist, könnte es nochmal einen Bonus geben. Wichtig dabei ist: Das setzt Anreize, ohne den Niedriglohnsektor dauerhaft umfassend zu subventionieren.

Über den Gesprächspartner

  • Enzo Weber ist Arbeitsmarktforscher, Makroökonom und Ökonometriker. Er leitet den Bereich "Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen" am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, einer Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. Außerdem ist Weber Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Regensburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die Entwicklung des Arbeitsmarktes, Konjunktur, Arbeitsmarktreformen und -politik sowie soziale Sicherung.
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