- Wirtschaftlich erfolgreicher, doch politisch zunehmend frustriert: Der Bericht des Ostbeauftragten zeichnet ein widersprüchliches Bild von der Gemütslage in den östlichen Bundesländern.
- Nur noch 31 Prozent der Menschen in Ostdeutschland sind mit der politischen Situation zufrieden.
- Der Ostbeauftragte Carsten Schneider (SPD) erklärt diesen Widerspruch mit ungleichen Löhnen in Ost und West – aber auch mit den Folgen der Corona-Pandemie.
Demokratie ist eigentlich die Herrschaft der Bevölkerung. Doch in Deutschland haben offenbar immer mehr Menschen das Gefühl, bei dieser Herrschaft nicht mehr mitreden und mitbestimmen zu können. Das gilt vor allem für die Länder im Osten: Nur noch 39 Prozent der Menschen dort sind mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden – vor zwei Jahren waren es noch 48 Prozent.
Diese Zahlen stammen aus dem aktuellen Bericht von Carsten Schneider, Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland. Der SPD-Politiker hat ihn am Mittwoch in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Texte und Zahlen darin zeichnen 32 Jahre nach der Wiedervereinigung ein zum Teil widersprüchliches Bild: Es hat sich viel getan – und trotzdem fühlen sich viele Ostdeutsche noch immer als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse.
Die wirtschaftliche Seite: ein erfolgreicher Aufholprozess
Wirtschaftlich hat sich in den östlichen Bundesländern vieles zum Guten entwickelt: Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland sank der Bundesagentur für Arbeit zufolge von 18,7 Prozent im Jahr 2005 auf 7,1 Prozent im Jahr 2021. Von Leuchtturmprojekten wie dem Tesla-Werk in Brandenburg oder Chip-Fabriken in Dresden und Magdeburg erhofft sich die Politik vor Ort weitere wirtschaftliche Impulse.
"Die Bundesrepublik wäre ohne den Osten ein ärmeres Land", sagt Carsten Schneider. Der Osten habe der ganzen Republik junge Menschen, eine neue Sicht auf Gleichberechtigung und kulturelle Impulse verschafft. Die Menschen in Ostdeutschland seien pragmatisch und zunehmend selbstbewusst. Auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien ist der Nordosten Vorreiter. Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg produzieren jetzt schon mehr Strom aus erneuerbaren Energien, als sie selbst verbrauchen.
Im Vorwort zu seinem Bericht schreibt der Ostbeauftragte: "Der Osten Deutschlands ist in vielerlei Hinsicht inzwischen eine der attraktivsten Wirtschaftsregionen Europas." Schneider hat dem Bericht den Untertitel "Ein neuer Blick" gegeben. Er möchte nicht mehr, dass der Osten als einheitlicher Block betrachtet und mit Klischees überladen wird – dazu seien die Länder zu unterschiedlich.
Die politische Seite: Wachsende Unzufriedenheit
Das ist die optimistische Seite. Doch der Bericht gibt wie erwähnt auch Grund zur Besorgnis. Das gilt vor allem für das Kapitel "Deutschland-Monitor". Es beruht auf einer repräsentativen Umfrage, für die das Meinungsforschungsinstitut Info GmbH im Juli und August dieses Jahres mehr als 4.000 Menschen befragt hat.
Viele Befragte kritisieren nicht nur die Demokratie (mit deren Funktionieren wie erwähnt nur 39 Prozent im Osten zufrieden sind), sondern die allgemeine politische Situation in Deutschland. Nur 31 Prozent der Ostdeutschen sind damit zufrieden – 2020 waren es noch 40 Prozent. "Aber das ist kein Ostphänomen", betont Holger Liljeberg, Geschäftsführer der Info GmbH. Im Westen ist der Anteil der "Zufriedenen" im gleichen Umfang gefallen: von 54 Prozent im Jahr 2020 auf jetzt 44 Prozent.
In beiden "Hälften" Deutschlands vollzieht sich also eine ähnliche Entwicklung – im Osten allerdings in verschärfter Form. Im Vergleich zu Westdeutschen haben Ostdeutsche im Schnitt häufiger das Gefühl, dass die Parteien sich für sie nicht interessieren. Mehr als 60 Prozent von ihnen fühlen sich noch immer als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse.
Auch der Anteil der sogenannten verdrossenen Populisten ist in den Ost-Ländern höher. Im Bericht werden die Menschen in dieser Gruppe folgendermaßen beschrieben: Sie lehnen Zuwanderung und die Europäische Union ab, fühlen sich nicht ausreichend vor Kriminalität geschützt. Viele dieser Menschen ziehen sich zunehmend in ihre eigenen Meinungsblasen zurück, setzen sich nicht mehr mit Fakten auseinander. Trotzdem plädiert Holger Liljeberg dafür, mit ihnen im Gespräch zu bleiben: "Man muss sie ernst nehmen, man muss ihnen zuhören und man muss anerkennen, dass sie eine andere Position haben."
Carsten Schneider: "Demonstrationen gehören zur Demokratie"
Mehr als 40 Prozent der Ostdeutschen sind der Meinung, dass man "nicht mehr seine Meinung äußern kann, ohne Ärger zu bekommen". Dabei verkünden gerade sehr viele Menschen lautstark ihre Meinung: In mehreren ostdeutschen Städten haben Menschen in den vergangenen Tagen gegen hohe Energiepreise und die Politik der Bundesregierung demonstriert. Manche Politiker und Experten befürchten sogar gewaltsame Proteste im Herbst und Winter.
Besonders drastisch hat sich im Sommer der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, geäußert. Er sagte dem ZDF: "Massenproteste und Krawalle sind ebenso vorstellbar wie aber auch konkrete Gewalttaten gegen Sachen und Personen, sowie klassischer Terrorismus mit dem Ziel eines Umsturzes."
Der Ostbeauftragte Carsten Schneider wirkt am Mittwoch deutlich gelassener. "Demonstrationen gehören zur Demokratie dazu." Er rufe allerdings alle Menschen auf, sich genau anzuschauen, wem man hinterherlaufe. "Unsere Aufgabe ist, Lösungen zu bieten. Die werden schwer sein", sagt er. Der Staat werde in der aktuellen Inflations- und Energiekrise nicht alle Belastungen komplett ausgleichen können. Aber er müsse die "industrielle Substanz" des Landes erhalten.
Selbstkritik bei Corona-Politik
Bleibt die Frage: Warum wächst die politische Unzufriedenheit, wenn sich wirtschaftlich so viel getan hat? Wie passen die beiden Entwicklungen zusammen? Der SPD-Politiker Schneider sieht immer noch Nachholbedarf, wenn es um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse geht: So sei der mittlere Lohn im Osten 600 Euro niedriger als im Westen. Auch soziale Themen spielen im Osten eine große Rolle: Nur 23 Prozent der Menschen dort sind mit der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland zufrieden.
Trotz aller Unterschiede verbindet die Menschen in Ostdeutschland laut Carsten Schneider ein Gemeinschaftsgefühl, insbesondere seit den Erlebnissen nach der Wiedervereinigung: Für viele brachte sie neue Ängste und den Verlust des Arbeitsplatzes. "Demütigungserfahrungen machen einen Teil des Bewusstseins aus."
In den vergangenen Jahren habe Deutschland viel durchgemacht, sagt Schneider: erst die Corona-Pandemie, jetzt der Krieg in der Ukraine mit seinen weitreichenden Folgen. "Wir sind eine erschöpfte Gesellschaft." Sowohl Schneider als auch Meinungsforscher Liljeberg erklären die politische Unzufriedenheit auch mit der Pandemie, mit vorübergehenden Grundrechtseinschränkungen und Impfdiskussionen. "Zwei Jahre Corona haben mit jedem von uns was gemacht", sagt Schneider. "Nicht jede Entscheidung, die ich da im Bundestag getroffen habe, war richtig. Manche Dinge waren auch unverhältnismäßig."
Verwendete Quellen:
- Pressekonferenz mit Carsten Schneider in der Bundespressekonferenz
- Ostbeauftragter.de: Ostdeutschland. Ein neuer Blick
- Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf: Entwicklung der Arbeitslosenquote
- ZDF.de: Verfassungsschutz zur Krisenlage: "Explosive Stimmung, die eskalieren könnte"
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