Die FDP steckt im Umfragetief fest. Der Parteitag in Berlin sollte zum Befreiungsschlag werden: Mit einem Zwölf-Punkte-Programm für eine "Wirtschaftswende" will man die Koalitionspartner vor sich hertreiben. Zu einer Generalabrechnung mit der Ampel wurde das Treffen der Freien Demokraten aber nicht.

Eine Analyse
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Vor dem alten Postbahnhof in Berlin-Kreuzberg verteilen ein paar junge Menschen Flyer. "Wort halten, FDP!", steht darauf. Es sind Tierschützer, die den anreisenden Freien Demokraten an noch nicht erfüllte Koalitionsvereinbarungen im Bereich der Landwirtschaft erinnern. "Wir appellieren an Ihre Liberalität", ruft ein Aktivist durch ein Megafon. "Wir brauchen auch die Freiheit der Tiere!"

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In den riesigen Hallen des stillgelegten ehemaligen Paketumschlagplatzes fand am Wochenende der FDP-Bundesparteitag statt. Und tatsächlich war er eine Art Appell an die eigene Liberalität: Angesichts miserabler Umfragewerte wollen die Freien Demokraten ihr eigenes Profil stärken und die Koalitionspartner unter Druck setzen. Mit ihrem nun beschlossenen Zwölf-Punkte-Programm für eine "Wirtschaftswende" legen die Gelben vor. Der Ball liegt jetzt bei SPD und Grünen.

Ein Baby-Bundesadler als Maskottchen

Beim Auftritt ist den Liberalen eine, zumindest kleine, Wende an diesem Wochenende schon gelungen: Im Hauptsaal des Parteitags erstrahlt hinter dem Redepult ein riesiges Display in Himbeerpink – eine leichte Abwandlung des gewohnten Magentas. Auch ein Maskottchen hat man sich extra für den Anlass gegeben: ein frisch aus dem Ei geschlüpfter Baby-Bundesadler, dazu als Motto die Wortneuschöpfung "Wachstun". Doch kann der Piepmatz wirklich für den gewünschten Aufbruch in der Wirtschaftspolitik stehen?

Insbesondere die Sozialdemokraten haben bereits deutlich gemacht, was sie von den Ideen ihres Koalitionspartners halten: "Die FDP macht mal wieder Vorschläge, die vor allem an die eigenen Reihen gerichtet sind", heißt es in einem Gegenpapier zu dem Zwölf-Punkte Programm. "Sie sind sozial ungerecht und machen wirtschaftspolitisch keinen Sinn."

Manche wollten in dem neuen Koalitionszwist bereits den Anfang vom Ende der Ampel sehen – und erwarteten vom Parteitag der Liberalen die nächste Eskalationsstufe. Die blieb jedoch aus.

FDP-Chef Lindner tritt staatstragend auf

Der FDP-Vorsitzende Lindner gab sich in seiner programmatischen Rede staatstragend. Vor über 600 Delegierten aus ganz Deutschland erklärte er zunächst, warum es dringend eine wirtschaftspolitische Kehrtwende brauche: Die Wachstumsprognosen sehen schlecht aus und die Bundesrepublik wird zunehmend für Unternehmen unattraktiver. "Wir benötigen einen nüchternen Realismus, der den Mut zum Handeln aufbringt, damit sich die Lage verbessert", sagte der Bundesfinanzminister. "Das verstehen wir unter Wirtschaftswende."

Punkt für Punkt geht Lindner in seiner über einstündigen Rede die Vorschläge seiner Partei durch: Abschaffung des Solidaritätszuschlags, härtere Sanktionen beim Bürgergeld, Anreize für Überstunden, ein Ende der Rente mit 63 sowie der staatlichen Förderung erneuerbarer Energie. Alles nötig, glaubt Lindner, um "in die Weltspitze zurückzukehren". Seine Ausführungen werden von teils frenetischem Applaus der Delegierten begleitet. Man merkt ihnen die Erleichterung an: endlich wieder FDP pur!

Schuld an der ökonomischen Talfahrt des Landes haben laut Lindner vor allem die Vorgängerregierungen unter Angela Merkel. Die Ampel schont der FDP-Chef dagegen in seiner Rede weitgehend. Kein Wunder, er und seine Partei sind schließlich Teil der Koalition. Es ist ein wiederkehrendes Motiv auf dem Parteitag: Eigentlich habe man als FDP in der Regierung einiges umsetzen können. Doch jetzt brauche es noch einmal ein ganz großes Wirtschaftspaket. Eine Scheidungsurkunde für die Ampel ist das nicht.

Lindner verschont die SPD mit Kritik

Nur gegen einen Koalitionspartner schießt Lindner an einigen Stellen. "Nicht Verbot, nicht Verzicht, sondern Innovation", laute die FDP-Formel für die Klimawende – eine implizite Spitze gegen die Grünen, denen der Ruf einer Verbotspartei anhängt. An der Kindergrundsicherung, einem Projekt der grünen Familienministerin Lisa Paus, lässt Lindner kein gutes Haar. Diese habe den "Status der Absurdität" erreicht, findet der Finanzminister, und legt seiner Kollegin nahe, das Gesetz doch besser gleich sein zu lassen.

Über die SPD, Arbeitsminister Hubertus Heil oder Kanzler Olaf Scholz, verliert Lindner dagegen kein Wort. Dabei kam gerade aus deren Reihen scharfe Kritik an den zwölf Punkten der FDP. Möglicherweise will Lindner nicht noch Öl ins Feuer gießen. Auch das zeigt: Die FDP hofft zumindest vorerst auf einen Aufschwung in der Wählergunst bei gleichzeitiger Regierungsbeteiligung – und nicht durch ein Platzenlassen der Ampel.

Dazu passt, dass sich der FDP-Chef in seiner Rede vor allem die Unionsparteien vorknöpft. Das Wirtschaftswende-Papier der Freien Demokraten wurde vielfach als Bewerbungsschreiben für eine Koalition mit der Union interpretiert. Diesem Eindruck will Lindner offenbar etwas entgegensetzen.

Er macht sich über CSU-Chef Markus Söder lustig, der eine erneute Große Koalition aus SPD und Union ins Spiel gebracht hatte, und greift die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) frontal an: "Der Bürokratiestress in unserem Land hat einen Vornamen: Ursula." Brüssel, glaubt Lindner, ist unter von der Leyen ein Wachstumshemmnis für Deutschland. Wenige Wochen vor der Europawahl ist das eine Kampfansage.

Strack-Zimmermann: "Guckst du scheiße, fährst du scheiße!"

Hier schließt auch die FDP-Spitzenkandidatin für das Europaparlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, an. Sie wendet sich einerseits gegen AfD und "Bündnis Sahra Wagenknecht", die die EU infrage stellten. "Wer lädt schon jemanden ein, der einem das Sofa unterm Hintern anzündet?", fragt Strack-Zimmermann ironisch.

Andererseits übt sie scharfe Kritik an von der Leyen, die wirtschafts-, energie- und sicherheitspolitisch wenig richtig gemacht habe. "Vierfach reguliert hält besser", gibt die FDP-Politikerin die Devise wieder, die sie offenbar bei der Kommissionspräsidentin am Wirken sieht.

Es sollten nicht die einzigen markigen Sprüche in der Rede von Strack-Zimmermann bleiben. So ist man es von "Oma Courage" gewohnt, wie sie auf ihren Wahlplakaten bezeichnet wird. Zum Abschluss ihrer Rede spricht sie den Parteifreundinnen und -freunden gut zu, sich nicht von schlechten Umfragewerten entmutigen zu lassen. Ihren Motorrad-Fahrlehrer zitierend, sagt Strack-Zimmermann: "Guckst du scheiße, fährst du scheiße!" Der Applaus im Saal ist ihr gewiss.

Djir-Sarai: "Kein Parteitag einer Oppositionspartei"

Für eine Partei, der bei der nächsten Bundestagswahl das erneute Ausscheiden aus dem Parlament droht, ist die Stimmung unter den Delegierten bemerkenswert gut. Zwischen den Redebeiträgen der FDP-Spitzen kommen auch die einfacheren Mitglieder zu Wort. Diese ringen zwar mit den schlechten Umfragewerten der FDP und sparen auch nicht an Kritik an der eigenen Partei sowie an den Koalitionspartnern. Den Austritt aus der Regierung fordert aber niemand. Wer eine Generalabrechnung mit der Ampel erwartet hatte, wurde enttäuscht.

Am Ende war das Treffen der FDP ziemlich genau so, wie es Generalsekretär Bijan Djir-Sarai bei seiner Rede am Sonntag darstellte: "Kein Parteitag einer Oppositionspartei, aber auch kein Parteitag einer Regierungspartei, die sagt: weiter so."

Doch wie genau es jetzt in Deutschland weitergeht, kann die FDP nicht allein entscheiden. Nach dem Parteitag stehen zähe Verhandlungen mit SPD und Grünen über die konkrete Ausgestaltung einer Wirtschaftswende an. Viel spricht dafür, dass es der bisher härteste Testfall für die Ampel-Regierung werden wird.

Verwendete Quellen

  • Live-Berichterstattung vor Ort auf dem FDP-Bundesparteitag
  • FDP-Programm "12 Punkte zur Beschleunigung der Wirtschaftswende"
  • SPD-Gegenargumente zum Zwölf-Punkte-Plan der FDP
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