In fünf Jahren als Präsidentin der EU-Kommission hat sich Ursula von der Leyen den Spitznamen "Madame Europa" erarbeitet und wurde zur mächtigsten Frau der Welt gekürt. Ihre Chancen, das Amt nach der Europawahl im Juni behalten zu dürfen, stehen nicht schlecht. Dass Überraschungen jedoch nicht auszuschließen sind, weiß wohl niemand besser als von der Leyen – war sie 2019 doch selbst die Überraschung.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie-Christine Fischer sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Manch einer nannte es einen Skandal, wie Ursula von der Leyen 2019 zum höchsten Exekutivamt in der Europäischen Union kam. Nach der Europawahl Anfang Juni wird der Vorsitz der Kommission erneut vergeben. Ist von der Leyen gesetzt? Ein Rück- und Ausblick.

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Wie wird der Kommissionspräsident gewählt?

Den Kommissionspräsidenten wählt das Europäische Parlament. Ein Kandidat braucht die absolute Mehrheit. Das Recht, einen Kandidaten vorzuschlagen, liegt allerdings beim Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs. Er muss sich bei seinem Vorschlag am Wahlergebnis orientieren.

Wie war das 2019 gleich nochmal?

Als große Neuerung hatte die EU zur Europawahl 2019 das sogenannte Spitzenkandidatenprinzip verkauft. Die Idee: Jede Parteienfamilie soll einen Spitzenkandidaten nominieren, damit die Wähler wissen, wer im Falle ihres Wahlsiegs Chef der Kommission wird. Die Personalisierung werde die Europawahl für die Bürger attraktiver machen, so die Hoffnung. Nicht alle spielten mit. Die EVP (Europäische Volkspartei), der Zusammenschluss der christdemokratischen Parteien, schon. Sie ging mit ihrem Vorsitzenden, dem Deutschen Manfred Weber von der CSU, in den Wahlkampf, wurde stärkste Kraft – nur Kommissionspräsident wurde Weber nicht.

Obwohl die EVP die Wahl gewonnen hatte, konnte sich der Rat 2019 nicht auf Manfred Weber einigen. Unter anderem stellte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron quer, um wenig später den Namen Ursula von der Leyen in den Ring zu werfen. Die war damals noch deutsche Verteidigungsministerin und hatte im EU-Wahlkampf nicht die geringste Rolle gespielt hatte. Der Rat nominierte sie, das Parlament stimmte zu. Von der Leyen kam zu diesem mächtigen Amt wie die Jungfrau zum Kind.

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Wie hat sich von der Leyen geschlagen?

Abhängig vom politischen Standpunkt wird von der Leyen sehr unterschiedlich bewertet. Kritiker geben ihr eine Mitschuld an der schwächelnden Wirtschaft, kritisieren ihre Impfstoffbeschaffung in der Corona-Pandemie, finden sie im Streit mit Ungarn und Polen um Rechtsstaatlichkeit zu zögerlich. Auf der Habenseite stehen ihr "Green Deal", der Europa bis 2050 klimaneutral machen soll und der "Digital Service Act" zur Regulierung von Onlinediensten. Der Migrationspakt hat zwar die grundlegenden Probleme nicht gelöst, soll aber immerhin schnellere Verfahren und eine gerechtere Verteilung von Flüchtlingen bringen.

Ziemlich unbestritten ist, dass von der Leyen ihr Versprechen von "mehr Europa in der Welt" eingelöst hat. Sie ist häufiger als ihre Vorgänger in andere Länder gereist. Sie pflegt ein sehr gutes Verhältnis zu US-Präsident Joe Biden. Dass Europa gegenüber Wladimir Putin mit einer Stimme spricht und die Ukraine geschlossen und umfangreich unterstützt, ist auch ihr Verdienst. Ihre außenpolitische Präsenz hat ihr den Spitznamen "Madame Europa" eingebracht. Nicht umsonst kürte das Magazin "Forbes" sie 2022 und 2023 zur mächtigsten Frau der Welt.

Will von der Leyen weitermachen?

Ja. Sie selbst hat Mitte Februar verkündet, dass sie erneut antreten will. Anfang März hat die EVP sie zu ihrer Spitzenkandidatin gekürt.

Umfragen zufolge wird die EVP stärkste Kraft. Manuel Müller vom Finnish Institute of International Affairs, der regelmäßig Wahlumfragen aus allen EU-Ländern zusammenführt, sah die EVP zuletzt 28 Sitze vor den zweitplatzierten Sozialdemokraten. Von der Leyens Chancen, das Amt behalten zu können, stehen also recht gut (was Weber 2019 allerdings auch dachte). Bauen kann von der Leyen auch auf den Amtsbonus. Den hatte vor fünf Jahren keiner der Kandidaten, nachdem Jean-Claude Juncker kein zweites Mal antreten wollte.

Was könnte dazwischenkommen?

Von der Leyen selbst ist das beste Beispiel dafür, dass Überraschungen nicht auszuschließen sind. 2019 bekam sie vom Parlament nur sieben Stimmen mehr als erforderlich. Wenige Abweichler können also große Auswirkung haben.

Hinzu kommt: Weil Charles Michel ins Parlament wechseln will und auf einem aussichtsreichen Listenplatz kandidiert, wird in diesem Jahr voraussichtlich, anders als sonst, unmittelbar nach der Wahl der Posten des Ratspräsidenten frei. Beide Ämter gleichzeitig kann die EVP nicht beanspruchen – es geht immer auch um Proporz. Das Postengeschacher à la Brüssel kommt erst noch.

Verwendete Quellen

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