Ein weiterer Stein in der Festung Europa? Die EU-Innenministerinnen und -minister haben sich auf eine Verschärfung des europäischen Asylsystems geeinigt. Was wird sich nun für Geflüchtete, aber auch für Europa ändern? Darüber diskutierte Anne Will am Sonntagabend. Die Antwort ihrer Gäste: ohne Abkommen mit Drittstaaten nicht viel.

Christian Vock
Eine Kritik
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Über eine generelle Einschätzung der Vereinbarungen kommt Anne Will zu den Detailfragen. Wie verändert die Verschärfung des Asylsystems die Situation vor Ort, gibt es jetzt mehr Solidarität unter den Ländern Europas in Bezug auf die Aufnahme von Geflüchteten oder wie verhält es sich mit der Sichere-Drittstaaten-Regelung?

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Mit diesen Gästen diskutierte Anne Will:

  • Franziska Grillmeier. Die Journalistin berichtet immer wieder über die Folgen europäischer Asylpolitik und die Situation an den europäischen Grenzen. Grillmeier ist skeptisch, ob die Vereinbarungen die Lage vor Ort ändern wird: "Man muss sich einfach inhaltlich ansehen, was dort beschlossen wurde und das ist so, dass es kaum etwas mit der Realität vor Ort zu tun haben wird." Man habe jetzt schon Zustände, die Schnellverfahren zum Teil durchwinken oder Menschen in haftähnlichen Situationen.
  • Ruud Koopmans. Koopmans ist Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität und meint, ohne Abkommen mit Drittstaaten werde eine europäische Asylpolitik nicht funktionieren. Für Koopmans ist die aktuelle Situation inakzeptabel, der Wissenschaftler hat hier aber einen Vorschlag: die Aufnahme von Flüchtlingen über Kontingente. Die aktuelle Politik sei inhuman, da sie nur den Menschen helfe, die es bis an die Grenze schaffen. Die anderen, etwa die Binnenflüchtlinge im Jemen, würden gar nicht erst nach Europa kommen können.
  • Omid Nouripour (Bündnis 90/Die Grünen). Nouripour ist Parteivorsitzender und sieht bei jedweder Asylpolitik zwei Grundsätze: "Grundsatz eins ist: Es muss rechtbasiert sein. […] Das zweite ist die Frage der Machbarkeit und der Wirksamkeit." Dass Nouripour der aktuellen Reform trotz Protesten aus der eigenen Partei zugestimmt hat, hat folgenden Grund: "Ich persönlich komme zum Ergebnis: Würden wir alles so belassen, wie es ist, […] kommen wir ja gar nicht mehr in die Verhandlungen miteinander, können wir nicht verpflichten, dass es sich verbessert", erklärt Nouripour mit Blick auf weitere Verhandlungen der Reform.
  • Jens Spahn (CDU). Der ehemalige Bundesgesundheitsminister beschäftigt sich nun als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Unions-Bundestagsfraktion mit den Themen Wirtschaft, Klima, Energie, Mittelstand und Tourismus. Für Spahn steht die Frage im Mittelpunkt: "Gibt es ein gemeinsames Verständnis davon, dass es eine Grenze des Machbaren gibt?"
  • Saskia Esken (SPD). Die Parteivorsitzende sagt über die Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU-Staaten: "Die Mehrheit der EU-Staaten, der Regierungen im Europäischen Rat hat zugestimmt, dass entweder Aufnahme-Quoten übernommen werden müssen oder eben finanzielle Leistungen geleistet werden müssen und die Europäische Union wird auch in der Lage sein, dieses durchzusetzen."

Die Diskussion, die nicht geführt wurde

Jens Spahn möchte in Ländern wie Syrien und Jemen Kontingente aufnehmen von denjenigen Menschen, "die es am dringendsten brauchen". "Das sind vor allem Frauen, das sind Kinder und eben nicht nur junge Männer", erklärt Spahn und fährt fort: "Im Moment, und das finde ich das Inhumanste, gilt das Recht des Stärkeren. Es schafft derjenige, der am stärksten ist, meistens junge Männer." Saskia Esken hält dagegen: "Wir haben in unserer Verfassung ein individuelles Asylrecht!"

In der Tat würde Spahns Vorschlag ein Unrecht – das Recht des Stärkeren – durch ein anderes Unrecht – die Verweigerung des Rechts auf Asyl, weil es bedürftigere Menschen gibt – ersetzen. Es wäre interessant gewesen, wie Spahn diesen Vorschlag und dessen Umsetzung im Detail begründet hätte, und ob die Idee dahinter nur die Begrenzung der Migration junger Männer ist. Doch Will ruft die diskutierenden Spahn und Esken zur Ruhe und spricht stattdessen mit Nouripour über eine generelle Obergrenze.

Der Schlagabtausch des Abends

Wenn man Parteivertreter von Opposition und Regierung einlädt, läuft es in Polittalkshows selten ohne Parteiengezänk – so auch am Sonntagabend. Jens Spahn beginnt den Abend mit Kritik an Nancy Faser und ihrer Rolle bei der Reform. Omid Nouripour wiederum kritisiert Spahns Wortwahl, als der bei seinem Kontingent-Vorschlag von einer "feministischen Migrationspolitik" spricht. Dazu sagt Nouripour: "Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll, wenn Herr Spahn das erste Mal in der Geschichte der Menschheit öffentlich das Wort Feminismus benutzt."

So schlug sich Anne Will

Überwiegend gut. Die Moderatorin hakt nach, wenn ihr die Gäste ausweichen und stellt dieselbe Frage auch noch einmal, wenn das ihrer Meinung nach nötig ist. Nur einmal kann ein Gast eine ihrer Fragen ignorieren und sich selbst die Agenda setzen.

Will spricht Jens Spahn auf seinen Besuch auf der Insel Kos an und fragt in Bezug auf ein dortiges Auffanglager: "Ist es den Menschen zumutbar, dort zwölf Wochen oder sogar länger – wenn sich danach kein Ort findet, wohin sie abgeschoben werden können – zu sein und auf ein Verfahren zu hoffen, bei dem Frau Grillmeier sagt, sie ist nicht sicher, ob es rechtsstaatlich wird?"

Jens Spahn lässt die eigentliche Frage nach der Zumutbarkeit links liegen und erklärt stattdessen erst einmal, dass die Zahlen in Griechenland im Vergleich zu den letzten Jahren relativ klein seien. Doch auch danach kommt keine Antwort, ob er die Situation der Menschen in einem Auffanglager zumutbar findet. Stattdessen redet Spahn über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit. Kurzum: Wo eigentlich eine einfache Ja/Nein-Antwort hätte kommen sollen, lässt Will Spahn mit seiner eigenen Agenda davonkommen.

Das Fazit

Es war bisweilen eine Diskussion über ungelegte Eier, da die konkreten Verhandlungen erst noch kommen. Darauf machten auch die Gäste immer wieder aufmerksam. Da war es gut, dass mit Grillmeier und Koopmans zwei Gäste aus Praxis und Theorie dabei waren. Sie konnten zum einen einschätzen, wie die Situation vor Ort ist und nach der Reform sein könnte und zum anderen Alternativlösungen aufzeigen, wie es Koopmans tat.

Was der Diskussion hingegen generell fehlte, war ein Blick über den Tellerrand der aktuellen Reform hinaus, der auch eine Einschätzung gibt, wie sich die Zahl der Geflüchteten denn entwickeln wird. Angesichts der Klimakrise dürfte die Zahl der Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, eher steigen als sinken.

Dem Abend hätte zudem auch nicht geschadet, wenn bei einer Diskussion über die Reform der Asylpolitik auch Menschen vertreten gewesen wären, die diese Reform aktuell am stärksten betrifft – die Geflüchteten selbst.

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