Die Bundes-Notbremse findet bei "Anne Will" keine Fürsprecher – eine FDP-Frau fordert die sofortige Rückkehr zur Normalität für Geimpfte. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock schont Robert Habeck, ihre Konkurrenten eher nicht.
Bremsen ist was für den Bund,
Während ein FDP-Urgestein das Infektionsschutzgesetz zerpflückt und die sofortige Rückgabe der Freiheitsrechte für Geimpfte fordert, parliert sich Baerbock locker durch Wills Fragen – und verteilt einen Seitenhieb auf ihre allzu forschen Mitbewerber ums Kanzleramt.
Das sind die Gäste bei Anne Will
Annalena Baerbock (Grüne) hält die bundesweite Ausgangssperre "nicht für sinnvoll": "Als ultima ratio kann sie ein Baustein sein, in der Form ist sie aber unverhältnismäßig."
Das Ziel sei gut, aber das Gesetz "handwerklich ganz schlecht", urteilt Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): "Es bringt doch nichts, wenn das Verfassungsgericht es gleich korrigieren muss."
Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, würde lieber Geld für Tests und Lüftungssysteme ausgeben als für Wirtschaftshilfen. Das neue Infektionsschutzgesetz sei kein großer Wurf: "Es reicht nicht, um erstens die Zahlen runterzubringen und zweitens eine Perspektive zu geben."
Wolfgang Merkel, Demokratieforscher am Wissenschaftszentrum Berlin, verteidigt die Politik gegen Kritik der Virologen - es herrsche nun einmal kein "Philosophenkönig", die Politik müsse zwischen verschiedenen Interessen abwägen: "Deswegen kommen immer Kompromisse heraus."
Die angesprochene Corona-Forscherin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut beharrt auf harten Maßnahmen gegen das Virus: "Niedrige Inzidenzen haben für alle Bereiche Vorteile – alles andere ist Durchwurschteln."
Das ist das Rede-Duell des Abends
Zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt für Anne Will haben die Grünen ihre K-Frage geklärt: Am Montag um 11 Uhr, vor fast einer Woche also, im Nachrichtengeschäft mindestens ein viertel Ewigkeit. In der Zwischenzeit hat Annalena Baerbock schon dutzende Interviews gegeben, der Neuigkeitswert des Einzelinterviews fällt entsprechend mager aus, zumal Will viel Zeit aufwendet, Baerbock ein schlechtes Wort über
Bei aller fehlenden Regierungserfahrung – ein politisches Greenhorn ist die 40-Jährige nicht, sie pariert Wills Suche nach Dissonanzen im grünen Führungsteam ebenso ungerührt wie die wenig subtile Frage nach einem Frauenbonus ("Es steht im Raum, dass Sie es nur geworden sind, weil sie eine Frau sind."): "Mein Geschlecht werde ich nicht ändern, auch nicht in den nächsten sechs Monaten."
Dass sowohl Markus Söder ("Armin Laschet wird eh Kanzler.") als auch Olaf Scholz ihr wenig zutrauen, quittiert Baerbock mit einem süffisanten Lächeln: "Das entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Ich habe große Demut, das unterscheidet mich vielleicht von anderen Kandidaten."
Eine Schlüsselkompetenz für höchste Ämter beherrscht die Kanzlerkandidatin zweifellos: Fragen rhetorisch geschickt ignorieren und den eigenen Sprechzettel abhaken. Keine fünf Fragen, und schon war das "Bingo" komplett: Pflege, Klima, neuer Führungsstil, klarer Kompass, Erneuerung des Landes.
Erst als Will Verstärkung mobilisiert und am grünen Selbstbild rüttelt, kommt Baerbock aus der Komfortzone heraus: Carla Reemtsma von Fridays for Future sieht die Partei fernab vom 1,5-Grad-Ziel, für die Ur-Grüne Antje Vollmer sei sie "machtbewuster und angepasster" geworden. "Wo versteckt sich denn ihre Radikalität?", fragt Will.
In der echten Veränderung, entgegnet Baerbock – es gehe nicht um "Wunschlisten", sondern um das Organisieren von Mehrheiten. "Also sagen Sie, es kann gar nicht klappen mit den 1,5 Grad?" Nein, das nun auch nicht, aber um breite Mehrheiten zu erreichen für das Ziel, müsste man die Partei nun einmal öffnen, "weiterentwickeln" nennt es Baerbock, "wegentwickeln von der Radikalität" nennt es Will. "Nein, beim Ziel bin ich klar", meint Baerbock. Nur der Weg, das macht das Gespräch klar, wird ungemütlich, wenn sie sowohl Fridays for Future als auch Daimler-Benz mitnehmen will.
Das ist der Moment des Abends
Auf einer langen Reise kann es nicht schaden, sich hin und wieder über die Richtung zu verständigen. Also, wohin wollten wir nochmal in der Coronakrise? Runter von den Fallzahlen jedenfalls nicht, meint Forscherin Viola Priesemann. "Ich bin mir gar nicht sicher, ob das wirklich ein Ziel ist", sagt sie, und da ist Gastgeberin Anne Will stellvertretend verblüfft: "Wie meinen Sie das?"
"Es ist ja immer noch nicht passiert, es liegt auf der Hand, dass man dafür mehr gebraucht hätte und mehr braucht." Sinnvoll wäre es jedenfalls gewesen, so Priesemann, um in einen exponentiellen Rückgang der Zahlen zu kommen. Es mache nun einmal einen Unterschied, ob man in allen Bereichen wenige Wochen komplett zumache oder in einigen Bereichen monatelang nur halb: "Leider haben wir uns für die zweite Option entschieden."
Besonders ein Fehler hat schwerwiegende Konsequenzen, epidemiologisch wie politisch: das Laissez-Faire in der Arbeitswelt. Die viel diskutierte Ausgangssperre etwa wirke "nur im Paket", erklärt Priesemann. Also nicht ohne echte Homeoffice – und Testpflicht am Arbeitsplatz. Und außerdem, wie die Grüne Baerbock und FDP-Frau Leutheusser-Schnarrenberger betonen, seien Ausgangssperren nicht verhältnismäßig, wenn gelindere Maßnahmen – wie in der Arbeitswelt – ausgespart werden.
So hat sich Anne Will geschlagen
Ja, es war eine Art Antrittsgespräch von Annalena Baerbock, trotzdem: So langsam sollten Deutschlands Politikjournalisten über den Fakt hinweg sein, dass die Grünen eine Frau ins Rennen um das Kanzleramt schicken.
Was wirklich den Ausschlag gegeben hat, werden wir in einigen Jahren in Robert Habecks Memoiren lesen dürfen, bis dahin darf die Redezeit gern für, ganz verrückter Vorschlag, inhaltliche Fragen verwendet werden: Wer bezahlt Annalena Baerbocks Pläne für Pflege, Hartz-IV-Erhöhung, Digitalisierung? Stehen die Grünen für eine Vermögenssteuer? Wie wollen sie die Verfassungsmehrheit für das Ende der Schuldenbremse zusammenkriegen?
Das ist das Ergebnis
Ein Fall für Karlsruhe ist die "Bundes-Notbremse" jetzt schon, 40 Beschwerden liegen schon vor, berichtet Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger. Ein gewichtiges Problem sei der Umgang mit Geimpften: Ob diese Gruppe ihre Freiheitsrechte zurückbekomme, liege laut Gesetz im Ermessen der Regierung. "Das halte ich für strikt verfassungswidrig", sagt Leutheusser-Schnarrenberger. "So kann man mit Geimpften nicht umgehen." Wer kein Risiko mehr darstelle, müsse seine Grundrechte sofort wiederbekommen.
So klar die rechtliche Lage scheint, so schwierig sei die politische Konsequenz, meint Politologe Wolfgang Merkel: "Wenn nicht allen Menschen ein Angebot gemacht wird, führt das zu Spaltung und Ungleichbehandlung."
Und es wäre nicht diese vermaledeite Pandemie, gäbe es nicht auch noch medizinische Unwägbarkeiten: Impfungen schützen nicht zu 100 Prozent vor der Weitergabe der Krankheit, erklärt Viola Priesemann. Und was ist mit "Escape"-Varianten, gegen die Impfungen wirkungslos sind? "Das ist eine Frage an die Juristen: Wie viel Übertragungsrisiko lassen wir zu? Zehn Prozent? Ist das akzeptabel?" Verfassungsrichter möchte man wirklich nicht sein in den nächsten Wochen.
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