Der Stillstand in Folge des Coronavirus könnte sich in Deutschland noch verschärfen – das wird am Sonntag bei Anne Will deutlich. Ein Mediziner warnt aber auch, man dürfe jetzt nicht "die ganze Republik in die Bude einsperren".

Eine Kritik

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Das öffentliche Leben ist mehr und mehr stillgelegt, die Grenzen geschlossen: Was vor wenigen Tagen noch undenkbar schien, wird in der Corona-Krise Realität. Auch bei "Anne Will" ist die Betroffenheit am Sonntagabend groß. Politiker müssen sich erklären, Mediziner sind besorgt – und die Gastronomie bereitet sich auf eine Pleitewelle vor.

Wer sind die Gäste?

Angela Inselkammer: Die Präsidentin des Bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands vertritt eine Branche, für die der Stillstand des öffentlichen Lebens zur Existenzfrage wird. Sie befürchtet, dass die Hälfte der gastronomischen Betriebe nach dieser Krise nicht mehr existieren wird.

Cerstin Gammelin: "Wir sind in Europa, wir haben einen europäischen Binnenmarkt", erinnert die stellvertretende Leiterin des Parlamentsbüros der "Süddeutschen Zeitung". Zuvor hatte Anne Will die Befürchtung geäußert "die Belgier" würden nun in Aachen die Läden leerkaufen. "Ich finde es schon ein bisschen erschütternd zu sagen, die Belgier dürfen nicht mehr nach Deutschland kommen und einkaufen, wenn bei denen die Läden zu sind", erwidert Gammelin.

Claudia Spies: Die Intensivmedizinerin an der Berliner Charité appelliert an die deutschen Kliniken, sich schnell auf eine höhere Anzahl von Corona-Patienten einzustellen. Sie fordert aber auch die Bürgerinnen und Bürger auf, sich an die Empfehlungen der Experten zu halten – zum Beispiel, wenn es darum geht, im Alltag zwei Meter Abstand zueinander zu wahren. "Ich glaube, viele haben noch nicht verstanden, dass man diese zwei Meter Abstand halten muss."

Olaf Scholz: Der Bundesfinanzminister hat in den vergangenen Tagen den eigenen Worten nach die finanzielle "Bazooka" ausgepackt, um der gefährdeten Wirtschaft zu helfen. In dieser Sendung aber ist der SPD-Politiker mit weiteren Hilfsversprechen zurückhaltender: "Wir haben jetzt erstmal viel gemacht. Das werden wir auch bei den Steuereinnahmen spüren."

Armin Laschet: Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident muss erklären, warum die Politik am einen Tag Maßnahmen ergreifen muss, die sie am Tag vorher noch für unnötig hielt. Der CDU-Politiker wirbt aber dafür, dass die Bürger das Vertrauen in den Staat nicht verlieren: "Wenn Krise ist, ist dieses Land auch in der Lage, schnell zu entscheiden."

Alexander Kekulé: Der Direktor des Instituts für Mikrobiologie der Universität Halle-Wittenberg hat schon vor zwei Wochen die drastischen Schritte gefordert, die nun umgesetzt werden. "Wir haben bis jetzt wahnsinnig viel Zeit verschlafen", kritisiert der Virologe. Kekulé rechnet vor: Ein Kind, das infiziert in die Schule geht, habe nach acht Wochen 3.000 Menschen infiziert, von denen statistisch gesehen 15 am Coronavirus sterben können.

Was ist der Moment des Abends?

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis gibt es gleich zu Beginn: Die drastischen Maßnahmen von der vergangenen Woche könnten sich in Deutschland noch verschärfen. Italien, Spanien und Österreich verpflichten ihre Bürger bereits, im Haus zu bleiben, wenn sie nicht gerade arbeiten oder lebensnotwendige Besorgungen machen müssen. Vizekanzler Scholz will nicht ausschließen, dass dieser Schritt auch hierzulande bevorstehen könnte. "Wir diskutieren alle möglichen Maßnahmen sehr sorgfältig", sagt er dazu. Am Montag werde die Regierung erneut darüber beraten.

Der Mediziner Alexander Kekulé plädiert jedenfalls dafür, zwei, drei Wochen alles stillzulegen. "Dann besteht die Hoffnung, dass man es vermeidet, dass die Zahl der Infizierten exponentiell weiter ansteigt."

Was ist das Rededuell des Abends?

In Krisenzeiten rückt man zusammen, statt zu streiten. Das galt schon in den vergangenen Wochen bei den Corona-Diskussionen. In dieser Sendung aber treten doch einige Meinungsverschiedenheiten zutage. "Ich frage mich nur, warum Sie so lange gezögert haben", sagt der Virologe Kekulé in Richtung von Ministerpräsident Laschet. Er meint damit die Regel, dass Eltern aus bestimmten Berufsgruppen trotz Kita- und Schulschließungen eine Notbetreuung bekommen können.

"Was heißt denn lange gezögert?", fragt Laschet irritiert zurück. "Mir haben nur kluge Virologen gesagt, es wäre nicht gut, die Schulen zu schließen." Er spielt damit auf Kekulés Kollegen an, die die Politik beraten haben. Streit mag in dieser Zeit nicht angebracht sein – aber Laschet kommt in dieser Situation durchaus dünnhäutig daher. Schuldzuweisungen bleiben offenbar doch nicht aus, wenn die Nerven blank liegen.

Was ist das Ergebnis?

Bloß keine Panikmache – das war in den vergangenen Wochen die Devise vieler TV-Diskussionen. Nach dieser Anne-Will-Sendung dürften die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer aber kaum beruhigter ins Bett gehen. Den Ernst der Lage will in dieser Runde eigentlich niemand besser darstellen, als er ist.

Und so bleibt vor allem hängen: Die Zahl der Infizierten könnte in Deutschland noch deutlich höher sein als bisher angenommen. Virologe Kekulé erklärt, dass in der offiziellen Statistik nur die Menschen auftauchen, die sich testen lassen und ein Ergebnis bekommen haben. "Eigentlich liegen wir bei dieser Zahl zehn Tage zurück."

Dass die Schließung von Schulen, Kindergärten, Schwimmbädern, Kultureinrichtungen, Gastronomiebetrieben und Grenzen vielleicht noch nicht alles war, was auf die Deutschen zukommen könnte, ist auch klar. Im Sinne der Bewegungsfreiheit bleibt nur zu hoffen, dass die Politik dann auf Kekulé hört. Der Mediziner spricht sich dafür aus, den Menschen wenigstens noch den Spaziergang im Park zu ermöglichen. Alles andere sei zu belastend: "Die ganze Republik jetzt in die Bude einzusperren – dafür gibt es keine medizinische Indikation."

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