Mittlerweile steht fest: Es kommt zu einer Stichwahl. Bei "Hart aber fair" ging es am Montagabend um die Präsidentschaftswahl in der Türkei vom vergangenen Sonntag. Wieso Alexander Graf von Lambsdorff dem mit großer Sorge entgegenblickt, wie Türkei-Experten die Chancen des Herausforderers einschätzen und weshalb die Erdogan-Wähler zum Zankapfel wurden.

Eine Kritik
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Zitterpartie in der Türkei: Bis zuletzt lieferten sich der amtierende Präsident Erdogan und sein Herausforderer Kılıçdaroğlu ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die Machtfrage ist noch immer offen – keiner der Kandidaten konnte eine absolute Mehrheit erreichen. Die Konsequenz: Stichwahl am 28. Mai.

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Das ist das Thema bei "Hart aber fair"

Der amtierende Präsident Erdogan muss sich seinem Herausforderer Ende Mai noch einmal stellen: Wird der Wahlkampf im Vorfeld härter – auch hier in Deutschland? 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass sind hierzulande wahlberechtigt. Wie groß ist die Chance auf einen Machtwechsel und welche Bedeutung hat die Wahl in der Türkei für unser Land? Fragen, über die Louis Klamroth am Montagabend (15.5.) mit seinen Gästen sprach.

Das sind die Gäste

Alexander Graf Lambsdorff (FDP): "Mit Kılıçdaroğlu als Präsident würde die Türkei wieder näher an Europa heranrücken", meinte der Außenpolitiker der FDP, der Erdogans Herausforderer persönlich kennt. Erdogan dominiere die Presselandschaft und sei nur im positiven Kontext im Fernsehen. "Während der Oppositionsführer kaum im Fernsehen ist und wenn, dann im negativen Kontext", beschrieb er. Das sei keine faire und freie Wahl.

Deniz Yücel: Es sei nach einer verheerenden Regierungsbilanz "niederschmetternd", dass immer noch so viele Menschen Erdogan wählen würden, meinte der Journalist. "Entschieden ist die Sache noch nicht ganz", erinnerte er. "Von den Leuten, die überhaupt wahlberechtigt sind und von den Leuten, die dann überhaupt zur Wahl gehen, sind das die Ergebnisse von zwei Drittel. Das kann man nicht auf alle Deutsch-Türken übertragen." Von seinen türkischen oder türkisch-stämmigen Freunden habe kaum jemand gewählt, weil die meisten die Staatsbürgerschaft nicht mehr hätten.

Fritz Schramma: Der ehemalige Oberbürgermeister von Köln, der sich in der Vergangenheit für den Bau der dortigen Ditib-Großmoschee einsetzte, sagte: "Wir haben uns zurückzuhalten mit Prognosen. Ich würde auch nie eine Empfehlung geben in die eine oder andere Richtung." Man müsse Wahlergebnisse respektieren.

Nalan Sipar: "Viele fühlen sich von der deutschen Gesellschaft nicht wirklich angenommen", so die Journalistin über deutsch-türkische Erdogan-Wähler. Es habe bei der jetzigen Wahl sehr viele Unsicherheitsfaktoren gegeben – zum Beispiel junge Wähler, manipulierte Umfragen, Wähler im Ausland. "In der Türkei kann alles passieren", sagte sie über die anstehende Stichwahl.

Ufuk Varol: Der Erdogan-Wähler ärgerte sich über die Anti-Erdogan-Stimmung in Deutschland und sagte mit Blick auf die offene Machtfrage: "Ich hätte mir für die Türkei gewünscht, dass es jetzt geendet hätte." Dann hätte sich die Türkei wieder auf ihr Land konzentrieren können, nun stünden zwei Wochen weiterer Wahlkampf bevor. Eigentlich wähle seine Familie seit Jahrzehnten CHP-Wähler. "Mit der Erdogan-Regierung haben wir aber gesehen: Da tut sich was. Da tut sich was Ordentliches in der Türkei." Das sehe man in den deutschen Medien nicht oft genug.

Das ist der Moment des Abends bei "Hart aber fair"

"Wie wichtig ist diese Wahl überhaupt für den Rest der Welt?", wollte Moderator Klamroth von FDP-Mann Lambsdorff wissen. "Das ist die wichtigste Wahl dieses Jahres, auf der ganzen Welt. Punkt", entgegnete er. Die Türkei sei ein großes und mächtiges Land. "85 Millionen Menschen genau an der Schnittstelle zwischen Europa, zwischen Russland, zwischen dem Nahen Osten", führte er aus.

Er mache sich große Sorgen, denn eine Stichwahl heize das politische Klima noch mehr auf. "Dann wird es richtig gefährlich in der Türkei", warnte Lambsdorff. Es könne zu einer Krise oder Anschlägen kommen. Dann seien die Menschen geneigt, doch wieder den Präsidenten zu wählen, den sie schon kennen. "Ich bin hochgradig nervös, was die nächsten zwei Wochen angeht", sagte er.

Das ist das Rede-Duell des Abends

Yücel wurde gefragt, warum zwei Drittel der Deutsch-Türken für Erdogan gestimmt hatten. Er erklärte: So, wie die unterschiedlichen Milieus in der Türkei wählen würden, würden sie auch in der Diaspora wählen. Akademiker würden beispielsweise eher der CHP ihre Stimme geben. "In Deutschland hält sich das über drei, vier Generationen aufrecht", beobachtete er.

"Also das sehe ich ein bisschen anders", schaltete sich Sipar ein. Sie verstehe ihre Aufgabe als Journalistin, so "dass meine Kritik sich immer an die da oben richten sollte und nicht auf die Bürger, die sich so oder so entscheiden." Die Erklärung "das sind vielleicht Menschen aus bestimmten Milieus, das sind keine Akademiker" sei gefährlich.

Auch konservative Leute könnten gut gebildet sein. "Ich glaube nicht, dass alle AKP-Wähler Gastarbeiter in der dritten, vierten Generation sind", so Sipar. Die Erklärung sei zu einfach. Die Berichterstattung verurteile Erdogan-Wähler zu häufig.

Yücel unterbrach sie: "Nalan sorry, aber soziologische Befunde sind keine Urteile, bitte." Sipar pochte darauf: Man müsse sich mit den Menschen unterhalten. Yücel verteidigte sich: "Das war nicht mit einem Urteil verbunden. Ich habe damit niemanden bewertet." Das sei kein Ausdruck von Ausgrenzung.

So hat sich Louis Klamroth geschlagen

Louis Klamroth lieferte eine gute Sendung. Er war an diesem Abend besonders auf sachlich-neutrale Fragen bedacht und hielt zusätzlichen Zündstoff aus der Sendung fern. So wollte er beispielsweise wissen: "Hat Erdogan den Sieg schon jetzt in der Tasche?" oder "Knapp zwei Drittel der Deutsch-Türken haben für Erdogan gestimmt. Können Sie nachvollziehen, warum?" Als Wähler Ufuk Varol Erdogan in hohen Tönen lobte, hielt er dagegen: Erdogan habe die Pressefreiheit eingeschränkt, Gegner ins Gefängnis gesteckt und im Wahlkampf gegen Schwulen und Lesben gehetzt.

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Das ist das Ergebnis bei "Hart aber fair"

Eine Prognose, wer bei der Stichwahl in knapp zwei Wochen die Nase vorn haben wird, gab es am Montagabend nicht. Wohl aber die Erkenntnis: Das Land ist gespalten und die Lage angespannt. Es gelang, die Sendung für deutsche Zuschauer verständlich zu halten – was aber noch stärker hätte herausgearbeitet werden können, war die Bedeutung der Türkei-Wahl für Deutschland und die Welt.

Verwendete Quellen:

  • ARD: "Hart aber fair" vom 15.05.2023
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