Bei "Anne Will" ging es am Sonntagabend um die anstehende Gegenoffensive der Ukrainer. Zu Gast war unter anderem der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk. Während CDU-Politiker Röttgen und Sicherheitsexperte Ischinger mit falschen und gefährlichen Erwartungen an die Offensive aufräumten, sprach Melnyk eine seiner größten Sorgen an.

Eine Kritik
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Anschläge auf russische Infrastruktur, Explosionen auf Eisenbahnschienen und Drohnenangriffe auf der Krim – sind das die Vorboten der Gegenoffensive? Beobachter rechnen mit einem Beginn noch in diesem Monat. Nato-Sekretär Jens Stoltenberg sieht die Ukraine derweil in einer guten Position, um besetztes Gebiet zurückzuerobern.

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Das ist das Thema bei "Anne Will"

Alle Welt blickt gespannt auf den Beginn der Gegenoffensive in der Ukraine. Auch Anne Will fragte ihre Gäste: "Wann beginnt die Gegenoffensive?" und "Kann es eine Wende im Krieg sein?" Im Studio ging es dabei um den nötigen langen Atem im Westen, den kommenden Wahlkampf in den USA, falsche Erwartungen an die Offensive und um den Erfolgsdruck, der auf der Ukraine lastet. Außerdem kamen die Themen Kampfjets, Munitionsnachschub und die Rolle von Kanzler Scholz auf den Tisch.

Das sind die Gäste

  • Saskia Esken (SPD): Der aktuelle Abnutzungskrieg sei für die Moral eine zermürbende Angelegenheit, meinte die Parteivorsitzende. Es gebe aber niemanden in der Bundesregierung, dem nicht klar sei, dass die Ukraine auch unsere Souveränität verteidige. Man dürfe keine überhöhten Erwartungen an die Gegenoffensive haben. "Wir werden lange noch zu tun haben mit diesem Krieg", mahnte sie.
  • Norbert Röttgen (CDU): "Der jetzige Ausrüstungsstand ist so gut wie noch nie", sagte der Außenpolitiker. Es sei aber nicht mit einer Beendigung des Krieges durch einen militärischen Sieg zu rechnen. "Das, was man erhoffen kann, ist eine Veränderung der Dynamik", meinte Röttgen. Diese könnte im Westen stabilisierend sein für die Unterstützung und in Russland Zweifel säen. Sollte aber keine Veränderung der Dynamik eintreten, "dann gibt es die Befürchtung: Verstehen wir trotzdem, dass wir durchhalten müssen?", so Röttgen.
  • Wolfgang Ischinger: "Es ist eine falsche Vorstellung mit dem Begriff Offensive jetzt die Vorstellung zu verbinden, dass da jetzt irgendwann in den nächsten Tagen auf Hunderten von Kilometern einer Tausend Kilometer langen Front Divisionen à la Zweiter Weltkrieg im Durchbruch marschieren", so der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Wahrscheinlicher sei ein monatelanger Prozess. "Das führt für uns dazu, dass wir das Gefühl überwinden müssen: 'Wir müssen jetzt noch ein paar Wochen aushalten, dann ist es vorbei'", so Ischinger. "Das wäre Gift", sagte er.
  • Andrij Melnyk: "Es gibt immer noch Scheuklappen, vor allem im Kanzleramt, dass man rote Linien, die man hat, nicht überschreiten möchte", kritisierte der Vize-Außenminister der Ukraine. Dabei gehe es vor allem um neue Waffensysteme. Es brauche eine Allianz zur Lieferung von Kampfjets. Der Krieg sei für die Ukraine vergleichbar mit dem Zweiten Weltkrieg. Man müsse die Phrase "as long as it takes" entziffern. "Wir haben den Vorschlag gemacht, dass man ein Prozent des BIP unserer Verbündeten dafür vorsehen sollte", sagte Melnyk.
  • Nicole Deitelhoff: Die Friedens- und Konfliktforscherin sagte: "Man versucht die Bedingungen auf dem Schlachtfeld zu verändern." Die Ukraine wolle durch Anschläge auf russisches Gebiet Nachschublinien des Gegners treffen. Diesmal sei mit einem anderen Verlauf der Offensive zu rechnen als im vergangenen Frühjahr – "weil sich die russische Seite darauf vorbereiten konnte", erinnerte sie. Es sei mit erheblichem Widerstand zu rechnen.

Das ist der Moment des Abends bei "Anne Will"

Vize-Außenminister Melnyk sprach über die anstehende Offensive: "Es ist ein Hoffnungsschimmer für viele Menschen, die seit Monaten in den besetzen Gebieten ausharren", sagte er. Es sei in den letzten Wochen allerdings ein erheblicher Erfolgsdruck aufgebaut worden, die Ukraine solle auf einen Schlag zeigen, was sie könne. Melnyk zeigte sich sichtlich besorgt: "Und wenn das irgendwie jetzt nur halb erfolgreich sein sollte, dann wäre es eine Möglichkeit, dass uns keine militärische Hilfe mehr gegeben wird und es nur eine Verhandlungslösung gibt. Das ist falsch."

Das ist das Rede-Duell des Abends

Anne Will sprach den Streit innerhalb der EU um die Munitionslieferungen an. "Wird in solchen Momenten noch mitgedacht, dass solche Blockaden Menschenleben kosten?", fragte die Moderatorin. Ischinger entgegnete: "Ich würde ein kleines bisschen zynisch sagen: Das ist der normale europäische Alltag. Es wäre fast ein Wunder, wenn bei einer solchen Frage plötzlich alle 27 sagen würden 'Hier geht es lang'", meinte er.

Röttgen stieg darauf wenige Minuten später ein: "Wir können nicht sagen, das ist der europäische Alltag! Krieg ist nicht Alltag, das ist nicht okay. Es sterben Menschen. Das geht nicht", machte er deutlich. Dass Nachschub an Munition nötig werden würde, sei schon vor über einem Jahr absehbar gewesen. "Das ist versäumt worden", kritisierte er. Die heutige Situation sei durch ein Nicht-Handeln in den vergangenen Monaten zustande gekommen.

"Und das ist auch nicht der Westen, Herr Ischinger", legte Röttgen noch einmal nach. Man müsse den Balten und Polen nicht den Ernst der Lage erklären. Der Bundeskanzler bestimme die Richtlinien. "Die Amerikaner machen alleine mehr als alle Europäer zusammen", erinnerte er. Man müsse erkennen, was auf dem Spiel stehe. "Olaf Scholz ist derjenige in Europa und im Westen, der immer der Zögerer war", merkte er später an. Esken meldete sich: "Das ist eine Geschichte, die Sie immer wieder erzählen, aber sie ist unwahr."

So hat sich Anne Will geschlagen

Anne Will stellte gute Fragen, aber bei vielen davon war schon im Vorhinein klar: Eine Antwort kann nur Spekulation sein. Ob die Ukraine beispielsweise gut vorbereitet und ausgerüstet für die Gegenoffensive ist, dürfte beispielsweise Saskia Esken aus dem Berliner Studio kaum umfassend beurteilen können – und wenn sie es könnte, wohl kaum in aller Öffentlichkeit sensible Informationen teilen. Auch die Frage "Tut der Westen genug?" kam etwas redundant daher. Gerne hätte Anne Will noch länger an folgender Frage dranbleiben können: "Sind Sie sicher, dass weitere Unterstützung sich nicht an militärische Erfolge knüpft?"

Das ist das Ergebnis bei "Anne Will"

Eine Sendung voller gehobener Zeigefinger mit der Mahnung: Unsere Freiheit steht auf dem Spiel! Wichtige Erkenntnis war außerdem die Erinnerung daran, dass nicht mit einem Durchmarsch und schnellen Kriegsende zu rechnen ist – sondern mit einem monatelangen Prozess.

Zu den Ergebnissen der Sendung zählten auch weitere Hausaufgaben für die westlichen Partner: Auch wenn jetzt noch kein Zeitpunkt für Verhandlungen gekommen ist, täte der Westen gut daran, sich über einige Fragen bereits Gedanken zu machen. Ischinger nannte eine davon: Wer könnte beispielsweise einen Waffenstillstand überwachen? Wohin Zeitversäumnisse führen, haben die letzten Monate schließlich schon gezeigt.

Verwendete Quellen:

  • ARD: Sendung "Anne Will" vom 07.05.2022
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