Lockerungen wurden beschlossen, die nie kommen werden, weil Lockerungen beschlossen wurden. So in etwa könnte man die Aussagen von Karl Lauterbach bei "Anne Will" am Sonntagabend zusammenfassen - wenn Lauterbach nicht noch beiläufig auf ein anderes Problem aufmerksam gemacht hätte.
Es ist gerade einmal eine Woche her, da fragte
Mit diesen Gästen diskutierte Anne Will
Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-AnhaltKarl Lauterbach (SPD), Bundestagsabgeordneter und GesundheitsökonomLisa Federle , Notärztin und Pandemie-Beauftragte des Landkreises Tübingen- Angela Inselkammer, Präsidentin des Hotel- und Gaststättenverbandes DEHOGA in Bayern
- Markus Feldenkirchen, "Spiegel"-Journalist
Die Themen des Abends
Impfen, testen, digital nachverfolgen. Anne Will beginnt mit der bisher als gemeinsamer Nenner verstandenen Voraussetzung, "um sicher lockern" zu können und schiebt hinterher: "Alle drei dieser Instrumente haben wir nicht – jedenfalls nicht in ausreichendem Maße." Trotzdem habe man sich bei der jüngsten Bund-Länder-Konferenz für Lockerungen entschieden und sei von der 35er-Inzidenz abgerückt.
"Warum, wozu ist das gut?", fragt Will und legt dann den Ball mustergültig, wie man beim Fußball sagen würde, Markus Feldenkirchen vor, der mit einer Generalabrechnung mit den Verantwortlichen und ihrer Pandemie-Politik seit dem vergangenen Sommer in den Abend einsteigt.
"Der Umgang mit der zweiten Welle war auf jeder Ebene zu halbherzig", erklärt Feldenkirchen. Eine frühere Verfügbarkeit des Impfstoffs hätte wahrscheinlich Leben gerettet und frühere Öffnungen ermöglicht, die Selbstteststrategie scheitere daran, dass sie schlicht nicht vorhanden seien und statt moderner Apps zur Kontaktnachverfolgung habe man das "Ungetüm der Corona-App", die "keinen signifikanten Beitrag zur Pandemiebekämpfung" geleistet habe.
All das zusammen und der halbherzige November-Shutdown führen laut Feldenkirchen zu der aktuellen Lage, dass man Anfang März immer noch darüber diskutiere, wie man angemessen lockern könne. "Wir können es nicht", stellt Feldenkirchen fest und ist sich sicher, dass die jüngsten Beschlüsse wahrscheinlich zu weit gehen. Sein Fazit: "Das ist einfach schlechtes Regierungshandeln."
Reiner Haseloff, mitverantwortlich für den Beschluss, sieht das anders. Der Beschluss sei "mit Augenmaß" gefällt worden. "Wir haben auf jeden Fall einen Beschluss gefällt, der eine Perspektive eröffnet, in welchen zeitlichen Abläufen wir was machen können, wenn uns die Situation nicht völlig aus dem Ruder läuft", erklärt Haseloff. Gleichwohl scheint er damit gerechnet zu haben, dass ihn keine Beifallsstürme erwarten und hat deshalb ein DIN A4-Blatt mit einer Grafik mitgebracht, die zeigen soll, dass Deutschland bei den Inzidenzwerten im Vergleich zu anderen Ländern doch gar nicht so schlecht aussehe. Trotzdem hätte er in diesem Moment mit dem Blatt in Hand kaum hilfloser wirken können.
Man habe Rückkopplungssicherheiten in den Beschluss eingebaut und brauchte gleichzeitig eine Botschaft an die Menschen, die wissen wollen: "Wie geht' jetzt weiter?", rechtfertigt Haseloff den Beschluss und kommt gerade bei dieser Frage nicht mit leeren Händen: "Mit Blick aufs Osterfest ist noch Einiges denkbar, mit Blick auf Pfingsten sowieso. Wir wollen möglichst viel Normalität im Sommer haben und darum bemühen wir uns."
Karl Lauterbach bereitet der Beschluss wegen der von ihm erwarteten dritten Welle indes Bauchschmerzen: "Ich hätte keine Öffnungen zugelassen bevor nicht die Teststrategie, auf die wir uns ja geeinigt hatten, auch umgesetzt gewesen wäre." Würde in Schulen, Betrieben und Testzentren systematisch ein- bis zweimal proWoche getestet, ließe sich der Reproduktionswert so stark senken, dass man auch die Mutationen in den Griff bekäme. Dann hätte man "eine Brücke gehabt, bis genug geimpft worden wäre", so Lauterbach. Hätte.
"Jetzt haben wir die Kombination von zwei schwierigen Nachrichten. Die eine Nachricht ist die: Wir haben gelockert, aber die Lockerung wird de facto nie eine Rolle spielen, weil die Fallzahlen steigen", erklärt Lauterbach. Es würden die Voraussetzungen für die Lockerungen, nämlich stabile oder sogar sinkende Fallzahlen, gar nicht erfüllt werden, gleichzeitig würden die Leute wegen der angekündigten Lockerungen unvorsichtiger werden. "Somit kombinieren wir ein Signal 'Es kann gelockert werden' mit einem Beschluss, der genau diese Lockerungen unmöglich macht. Daher habe ich die Beschlusslage als unglücklich empfunden, um es mal so auszudrücken.
"Wie würden sie es in Wahrheit ausdrücken", fragt Will nach und Lauterbach wird nur unwesentlich deutlicher: "Ich glaube, dass es eine unglückliche Beschlusslage ist, die man so schwer vertreten kann. Daher ist auch diese Notbremse bei 100 (Inzidenz, Anm.d.Red.) Gold wert, denn die werden wir brauchen."
Der Schlagabtausch des Abends bei "Anne Will"
Fiel aus. Nicht, weil man über den einen oder anderen Punkt nicht hätte streiten können, sondern weil nicht so recht Waffengleichheit bei den Argumenten herrschte. So beklagte Angela Inselkamer zu Recht die Not in der Gastronomie und Hotellerie ("Die Verzweiflung da draußen ist so groß"), beschwerte sich über die Ungleichbehandlung bei Auslands- und Inlandsreisen, verwies auf Ausweichreaktionen ihrer Gäste, die viel schlimmer seien, warf ihre Hygienekonzepte in die Waagschale, kurzum, sie kämpfte wie eine Löwin für sich und ihre Branche.
Doch als sie bei Karl Lauterbach nachfragte, warum er eine Öffnung der Außenbereiche mit Antigentests befürworte, nicht aber auch eine Öffnung der Innenbereiche, biss sie sich ganz schnell die Zähne aus. Lauterbach hatte bereits zuvor eine Studie über Innenbereiche zitiert laut der "zuerst die Fallzahlen und dann die Todeszahlen gestiegen sind", er hatte auf die Mutationen verwiesen, über die noch keine Aussagen diesbezüglich getroffen werden könne und antwortete nun: "Die Tests sind nicht sicher genug, als dass ich das innen vertreten würde." Diskussion beendet.
So schlug sich Anne Will
"Kriegen Sie's nicht hin?", fragt Anne Will Reiner Haseloff, ob ab dem 8. März die Teststrategie in Sachsen-Anhalt laufen werde und das sollte nur der Anfang sein. Denn Reiner Haseloff dachte gar nicht daran, darauf eine klare Antwort zu geben. Also blieb Anne Will hartnäckig: "Sie sind morgen noch nicht so weit?" Sie können also keine Tests anbieten?", bohrte Will immer wieder nach, doch Haseloff wollte einfach nicht mit einem klaren Ja oder Nein antworten.
Also probierte es Will ein letztes Mal: "Ich frage ja die ganze Zeit immer dieselbe Frage, aber Sie haben noch nicht geantwortet: Von morgen an, jede Zuschauerin und Zuschauer aus Sachsen-Anhalt, kann er von morgen an diesen einen kostenlosen Test pro Woche denn bekommen und wenn ja, wo?" Das Nein, das Haseloff offensichtlich nicht geben wollte, musste man dann aus Formulierungen wie "Das schleift sich jetzt ein" oder "im Laufe des März bis in den April hinein" heraushören.
Das Fazit
"Eine unglückliche Beschlusslage", wird wohl als das prägendste Zitat dieser Talkrunde in Erinnerung bleiben. Amüsant, könnte man meinen, wenn dahinter nicht Ernsteres stecken würde. Nämlich die Einschätzung Lauterbachs, dass durch die aktuellen Lockerungsbeschlüsse diese Lockerungen ohnehin nicht kommen werden, weil genau diese Beschlüsse eine Sorglosigkeit provozieren.
Das wäre dann auch schon fast der einzige wirkliche Informationsgehalt dieser Runde gewesen, hätte Lauterbach nicht auch noch, quasi im Vorbeigehen, enthüllt, was man bezüglich einer Teststrategie eigentlich nicht hören möchte: "Niemand weiß genau zum jetzigen Zeitpunkt, wie viele Tests wir haben", erklärte Lauterbach, warum er eine Bestandsaufnahme der verfügbaren Schnelltests haben möchte. "Aber das ist doch ein Skandal eigentlich", wirft Anne Will ein, doch Lauterbach bleibt nüchtern: "Ich will das nicht bewerten, sondern nur beschreiben." Klingt trotzdem nach dem Thema der nächsten Ausgabe von "Anne Will".
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