SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz attackiert die Agenda 2010, ohnehin bestimmt das Thema soziale Gerechtigkeit den Wahlkampf. Maybrit Illner diskutiert mit ihren Gästen deshalb, ob die Reform des Arbeitsmarktes wirklich so viele Verlierer hat. Am Ende steht eine besorgniserregende Erkenntnis.
Vor der Bundestagswahl 2017 ist das Thema soziale Gerechtigkeit ein Renner bei allen Parteien, egal, ob links oder rechts, liberal oder konservativ. Es soll bestenfalls zum Wählermagneten werden. Nicht zuletzt attackiert
Hartz IV-Kritikerin wettert gegen Martin Schulz
Und zwar, wie gut es uns Deutschen wirklich geht. Alarmierend sind die Schilderungen einer ehemaligen Arbeitsagentur-Mitarbeiterin namens Inge Hannemann. Sie gilt als Hartz IV-Kritikerin schlechthin, zog mit dieser Haltung für Die Linke in die Hamburgische Bürgerschaft ein. "Was Martin Schulz vorschlägt, ist keine Reform, sondern ein Reförmchen", wettert sie.
Hannemann erzählt von sechs Millionen Hartz IV-Beziehern in Deutschland, darunter zwei Millionen Kinder, in Folge der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern. Es sind Zahlen, die sich ins Gedächtnis brennen. Sichern wir also nur in der Arbeitslosigkeit ab, anstatt Menschen wieder in Arbeit zu bringen? Das ist die Theorie von
CDU-Politiker fordert notfalls Einkommensabstriche
Der CDU-Politiker geht die Diskussion gewohnt forsch an. Hat er dabei aber den Blick für den kleinen Mann? Als er das letzte Mal so wenig Geld bekommen habe wie ein Hartz IV-Empfänger, und zwar 301 Euro monatlich, sei er noch in die Lehre gegangen, schildert er auf durchaus provokante Nachfrage Illners. Ansonsten hat der CDU-Mann allerhand Vorschläge parat, fordert örtliche Flexibilität von Arbeitnehmern, notfalls Abstriche beim Einkommen.
Wie hoch diese Abzüge sein können, erzählt Mike Szczeblewski. Er war bis Ende 2014 als Vorarbeiter in der Lackiererei im Opel-Werk in Bochum beschäftigt. Nachdem er seinen Job verlor, kam der gelernte Industriemechaniker in eine Transfergesellschaft. Ende des Jahres droht ihm Hartz IV.
Fünf Euro die Stunde weniger
Die Konstellation Spahn versus Szczeblewski und Hannemann zeigt, wie weit die Theorie des Politikers und die Praxis (wohl) auseinanderliegen. "Reicht die Höhe eines Mindestlohns zum Leben oder gegen Altersarmut?", nennt der einstige Opel-Mitarbeiter eine für ihn alltägliche Frage.
Er kritisiert die Agenda, weil er sie am eigenen Leib erfährt. So erzählt er von einem Kumpel, der in Leiharbeit "gedrängt wurde". Dieser "tingelt seit Jahren" zwischen verschiedenen Jobs. Er verdiene dabei fünf Euro die Stunde weniger als es der übliche Tarif vorsehe. Sein Vorwurf: Die Agenda habe zu Lohndumping geführt. Sein Frust ist verständlich.
Auch Hannemann argumentiert gegen die Agenda, erzählt von Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger, von Arbeitsagentur-Sacharbeitern, die Kontoauszüge anschauen und daraufhin Bezüge kürzen würden. Wegen solcher Sanktionen würden nur 40 bis 50 Prozent der Betroffenen den Einladungen Folge leisten. Es sei nur einer von vielen Fehlern im System, meint sie.
"Die Gewinne sind ungleich angekommen"
Spahn hat genug von so viel Schwarzmalerei, meint: "Das Land wird in einer Art dargestellt, die nichts mit der Realität zu tun hat." Wieder fragt man sich als Zuseher: Wie gut geht es uns Deutschen wirklich?
Nicht so gut, wie wir es verkaufen, meint der Wirtschaftsweise Prof. Dr. Peter Bofinger. "Die gesamte Wirtschaft steht so gut da wie nie", sagt der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg zwar. "Aber: Die Gewinne sind sehr ungleich angekommen. Die unteren 40 Prozent der Haushalte haben keine Einkommenszugewinne, die unteren zehn Prozent haben sogar Einkommensverluste."
Hartz IV habe keinen Beitrag geleistet, dass Deutschland wettbewerbsfähiger wurde, meint er. Im Gegenteil. Minijobs hätten auf den Niedriglohnsektor weiteren Druck ausgeübt.
Agenda 2010 nicht mehr zeitgemäß
Auch der Ökonom Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft meint: "Wir sind keine Insel der Glückseligkeit." Klingt letztlich nach Schulz‘ Wahlkampfparolen. Laut Malu Dreyer, der Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, habe ihr Parteivorsitzender ohnehin in allen Punkten Recht. "Wir brauchen ganz andere Ansätze", sagt sie.
Markant: Wie erwähnt, trug einst Rot-Grün die Agenda. Jetzt ist also alles schlecht? Die Antwort lautet wohl eher, dass die Agenda nicht mehr zeitgemäß ist. Und, dass bei all dem Wohlstand wohl mehr Arbeitslose der Arbeitslosigkeit überlassen wurden, als uns Deutschen lieb ist.
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