Wenige Wochen vor dem Referendum in der Türkei beunruhigen Enthüllungen über ein Spitzelsystem die deutsch-türkische Community. Gegner von Erdogans Politik werden offenbar ausgespäht – auf deutschem Boden. Ein CSU-Politiker nannte das in der Sendung von Maybrit Illner "dreist". Ein Geheimdienst-Experte wandte ein, es werde beidseitig spioniert.
Der türkische Geheimdienst MIT übergab dem Bundesnachrichtendienst BND vor fünf Wochen eine Liste mit 358 Namen. Darauf verzeichnet waren in Deutschland lebende, mutmaßliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, der von der Türkei für den gescheiterten Putsch im Jahr 2016 verantwortlich gemacht wird.
Doch anstatt die türkischen Kollegen mit Informationen zu füttern, entschlossen sich die deutschen Behörden, die Betroffenen zu warnen. Zugleich war die Liste ein Beleg, dass in Deutschland offenbar ein System aus Spitzeln und Denunzianten existiert.
Gegner des türkischen Verfassungsreferendums sollen eingeschüchtert werden, in der türkischen Community ist die Stimmung vergiftet.
Wer kritisch ist, kann ins Visier kommen
Klare Worte fand Stephan Mayer, der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, gleich zu Beginn der Sendung. Mayer nannte es "dreist, dass der türkische Geheimdienst zugibt, dass er auf deutschen Boden spioniert."
Der CSU-Politiker vermutet, "dass die Türken durch die Liste auf einen äußeren Feind ablenken wollen". Dies sei eine "perfide Wahlkampfstrategie", um die eigene Bevölkerung vor dem Referendum hinter sich zu sammeln.
"Die Menschen auf der Liste sind in höchstem Maße gefährdet", sagte Mayer weiter. Der BND habe daher richtig reagiert, indem er die Liste weitergegeben habe. Dafür gab es Applaus.
Auch die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fand es "gut und richtig, dass die deutschen Geheimdienste die Personen auf der Liste gewarnt haben".
Die hessische Integrationspolitikerin Mürvet Öztürk erklärte, es sei ein "offenes Geheimnis, wenn man kritisch ist gegenüber der türkischen Regierung, dass man dann ins Visier kommen kann". Viele Deutsch-Türken hätten im Sommer Angst, in ihre Heimat zu fahren.
Mit seinem Hintergrundwissen ordnete der Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom die Lage ein. Türkische Spionage sei in der BRD immer bekannt gewesen, gegenseitiges Bespitzeln unter Freunden ohnehin gang und gäbe.
Allerdings beobachtet der Fachmann seit 2013 einen Bruch in den geheimdienstlichen Beziehungen. Die Stimmung werde zunehmend aggressiv - auf türkischer Seite. Schmidt-Eenboom sprach sich für die Ausweisung der hauptamtlichen Mitarbeiter des MIT aus.
"Deutschland sitzt im Glashaus"
Eine ganz andere Sichtweise vertrat Haluk Yildiz, der Gründer der deutsch-muslimischen BIG-Partei. In Richtung Öztürk sagte er, ihre Vorwürfe an die türkische Regierung seien an den Haaren herbeigezogen. "Sie sprechen von einem anderen Land. Die Debatte ist eine Scheindebatte. Man versucht in Deutschland von innenpolitischen Problemen abzulenken." Welche, ließ er offen.
Die deutsche Regierung solle sich nicht in türkische Angelegenheiten einmischen. Als Yildiz meinte, Deutschland sitze "im Glashaus", reagierte das Publikum mit Gelächter – und CSU-Mann Mayer platzte die Hutschnur. "Die Türkei sitzt im Glashaus", entgegnete Mayer unter Applaus.
Werden Kritiker am türkischen Verfassungsreferendum etwa nicht eingeschüchtert? Auch hier legte Yildiz, dessen Partei eine Nähe zur türkischen Regierungspartei AKP nachgesagt wird, Einspruch ein. "Ich habe nicht den Eindruck, dass der Hälfte der türkischen Bevölkerung Angst gemacht wird."
Öztürk hat es in ihrem hessischen Umfeld anders erlebt: "Viele Menschen sind eingeschüchtert und haben Angst, mit Nein zu stimmen."
Der Grund: Die türkische Regierung habe diese schon vorab als Terroristen denunziert. Mit viel Ironie sprach die Politikerin von dem "demokratischen Referendum", bei dem ein Nein doch problemlos möglich sein müsse.
Geheimdienst-Experte: "Vorgetäuschter Pseudo-Putsch"
Was bedeutet all das für das deutsch-türkische Verhältnis? Innenexperte Mayer nannte das Vertrauensverhältnis zwischen den Ländern und den Sicherheitsbehörden "zerrüttet".
Er betonte zugleich, dass eine enge Beziehung zur Türkei als Nato-Partner und Brücke in den Nahen Osten weiterhin sehr wichtig ist.
Yildiz erklärte die Spaltung der türkischen Community mit dem derzeitigen Systemwandel und einem Transformationsprozess in der Türkei. Er warb – mehr schlecht als recht – für mehr Verständnis für die türkische Politik.
Besonders deutlich wurden die Differenzen bei der Bewertung des gescheiterten Putsches. Während Mayer sagte, die Gülen-Bewegung sei "keine Terrororganisation" und es gebe "keine Belege für eine Beteiligung der Gülen-Bewegung" und Geheimdienst-Experte Schmidt-Eenboom sogar von einer Inszenierung, von einem "vorgetäuschten Pseudo-Putsch" sprach, blieb Yildiz bei der offiziellen Version.
Auf die einprasselnde Kritik reagierte er irgendwann dünnhäutig: "Sie müssen mich nicht von allen Seiten anmachen", sagte er zu Öztürk.
Die Gräben sind nicht nur innerhalb der türkischen Community sowie zwischen der deutschen und türkischen Regierung tief – sie waren es auch in der Talkrunde von Maybrit Illner.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.