Ob Christchurch, Halle oder nun Hanau: Die Täter handelten gezielt und aus rassistischen Motiven, ihre Vorgehen begründeten sie in langen Schmähschriften. Im Interview mit unser Redaktion schildert Extremismus-Expertin Karolin Schwarz, wie sich die Attentäter im Internet radikalisierten.
Tobias R. war laut eigener Beschreibung ein Mann, der nie eine feste Freundin hatte. Ein Mann, der an Geheimdienste glaubte, die seine Gedanken lesen können. Und ein Mann, der Sündenböcke brauchte, die er für all seine Probleme und für sein selbst empfundenes persönliches Scheitern verantwortlich machte.
Im Internet hat der 43-Jährige wenige Tage vor seinem Attentat in Hanau mehrere Videos und Dokumente veröffentlicht. Sie zeigen seine rassistische, antisemitische und von Verschwörungstheorien bestimmte Weltsicht. Und sie zeigen die rechtsradikalen Vernichtungsfantasien eines mutmaßlich zehnfachen Mörders.
Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt die Extremismus-Expertin Karolin Schwarz, wie sich Rechtsterroristen im Netz radikalisieren und was Tobias R. von den Attentätern von Halle oder Christchurch unterscheidet.
In Deutschland haben wir innerhalb weniger Monate den Mord an Walter Lübcke, Schüsse auf einen Eritreer im hessischen Wächtersbach, den antisemitischen Anschlag von Halle und nun eben Hanau erlebt. Geht es nur mir so oder überraschen einen zynischerweise rechtsradikale Attentate nicht mehr?
Karolin Schwarz: Wie wir inzwischen gut genug wissen, ist das Gewaltpotential in großen Teilen des rechten Spektrums sehr hoch. Wir haben das im vergangenen Jahr gesehen, als sich weltweit Rechtsterroristen jeweils aufeinander bezogen. Wir sehen auf der ganzen Welt zahlreiche rechte Anschläge, es gibt eine nachhaltig hohe Gefahr. Insofern ist es tatsächlich nicht mehr überraschend, so zynisch das klingt.
Wie groß ist die Gefahr?
Es gibt die Theorie des Stochastischen Terrorismus: Unzählige Leute im Netz radikalisieren sich, bis einer von ihnen losschlägt. Diese Wahrscheinlichkeit steigt mit jedem Anschlag, aus zwei Gründen: Zum einen nehmen sich die Täter andere Taten als Vorbild. Und zum anderen sehen sich Täter ermächtigt zuzuschlagen, weil vergangene Anschläge glorifiziert werden und Gewalt normalisiert wird. Dafür gibt es Räume im Internet. Nicht in verschlüsselten Gruppen – das alles passiert völlig offen.
Auch Tobias R. veröffentlichte vor der Tat Videos und ein "Manifest" – wie es Generalbundesanwalt Peter Frank nannte – im Internet. Was will er damit erreichen?
Grundsätzlich geht es darum, die eigene Ideologie darzustellen, seine Ideen in die Köpfe einzupflanzen und auch Menschen zu rekrutieren. Anders Behring Breivik hatte seine Tat als Buchvorstellung bezeichnet. Sein Ziel war es, vernichtende, menschenfeindliche Ideen in die Breite zu tragen. Das hat geklappt: Fast alle Rechtsterroristen der letzten Jahre haben sich in ihren Pamphleten auf Breivik bezogen. Ihnen allen ging es um Abschreckung, um Polarisierung, um das Schüren von Ängsten. Sie wollen Terror in die Köpfe streuen. Ihre Botschaft soll verbreitet werden – und gerade bei Muslimen, Juden und nicht-weißen Menschen Angst auslösen. Ich sehe aber einen Unterschied zwischen dem Pamphlet von Tobias R. und denen der Rechtsterroristen von Halle, El Paso, Christchurch und Utøya.
Der wäre?
Nach allem was bisher bekannt ist, gehörten Tobias R. und die anderen Rechtsterroristen unterschiedlichen rechtsradikalen Milieus an. Letztere waren junge Täter, ihre Pamphlete hatten zahlreiche netzkulturelle Bezüge. Die finden sich bei R. nicht, er war ja auch mit 43 Jahren älter und verkehrte vermutlich in anderen Kreisen. Trotzdem hat er sich an anderen Taten orientiert. Nach deren Vorbild hat er seine Propaganda konzipiert und auf seiner Webseite und auf Youtube verbreitet.
"Auch Menschen mit einer psychischen Erkrankung haben eine politische Einstellung"
In den veröffentlichten Dokumenten wird das geschlossen rechtsradikale, rassistische und verschwörungsideologisches Weltbild von Tobias R. mehr als deutlich – genauso aber auch, dass er offenkundig psychische Probleme hatte. Wie ist das einzuordnen?
Das eine schließt das andere nicht aus. Es lässt sich nicht verleugnen, dass es deutliche Anzeichen für eine psychische Erkrankung gab. Es gilt ebenso noch zu erörtern, welche Krankheitsgeschichte es bei ihm in der Vergangenheit gab. Auch Menschen mit einer psychischen Erkrankung haben eine politische Einstellung. Aber nur die allerwenigsten von ihnen verüben Terroranschläge. Und die "zutiefst rassistische Gesinnung", wie der Generalbundesanwalt sagte, lässt sich eben nicht ausblenden. Diese Gemengelage, diese Verbindungen gab es auch beim rechtsradikalen Täter des Anschlags am und im Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ).
Der Attentäter von Hanau war überzeugt, dass sich ein "Geheimdienst" in sein Gehirn "eingeklinkt" hatte und seine Gedanken überwachte – und so unter anderem Ideen für Hollywood-Filme und die US-Politik klaute. Tobias R. könne sich zudem an Ereignisse kurz nach seiner Geburt erinnern und auf mehreren Seiten schildert er, wie die deutsche Fußball-Nationalmannschaft wieder erfolgreich wird. Wie passt das alles zusammen?
Es gibt da keine Trennschärfe. Natürlich gibt es Teile in seinem Pamphlet, die extrem wirr erscheinen. Das lässt sich zum Teil mit der psychischen Komponente erklären. Auf der anderen Seite mögen Dinge wirr erscheinen, die im rechtsesoterischen Spektrum völlig normal sind, wie eine geheime Elite, die die Welt regiere. Die Verschwörungstheorie über einen Kindesmissbrauchsring, indem ranghohe Politiker involviert sind, spielte sogar im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 eine Rolle. Diese absurd klingenden Theorien existieren nicht erst seit gestern.
Wie verläuft so eine Radikalisierung typischerweise ab?
Generell gibt es unterschiedliche Muster, weil es unterschiedliche Milieus gibt. Die Szene ist sehr ausdifferenziert. Bei Tobias R. muss man noch vorsichtig sein. Selbst beim Täter von Halle haben wir noch nicht allzu viele Erkenntnisse, wie er sich radikalisiert hat – und das selbst ein halbes Jahr später. Klar ist aber, dass viele Bezüge aus dem Internet kommen. Mit den von R. verbreiteten Verschwörungstheorien kommt man im Alltag normalerweise nicht in Berührung. Aber auf vielen Webseiten und Social-Media-Plattformen finden sich diese Inhalte.
Der mutmaßliche Attentäter von Hanau hat auf seiner Internetseite selbst zahlreiche Verschwörungsvideos verlinkt, die jeder auf Youtube sehen kann.
Man klickt sich von einem Video zum nächsten. Bei Menschen, die bereits einer Verschwörungstheorie anhängen, verfängt so etwas sehr leicht. Sie verbinden das eine mit dem anderen, auch außerhalb des Internets.
Was fällt bei Tobias R. außerdem auf?
Er hierarchisiert Menschen anhand rassistischer Biologisierungen. Dass zum Beispiel die Intelligenz von der Herkunft abhänge. Das finden wir so ähnlich auch in den Schriften von Thilo Sarrazin. Tobias R. bezieht sich auf Berichte über Kriminalität, die ausschließlich aus Taten von Menschen anderer Hautfarbe oder Staatsbürgerschaft bestehen. Es beeinflusst den Menschen, wenn auf ihn tagein, tagaus nur diese ausgewählten Nachrichten einprasseln. Die Wahrnehmung verschiebt sich dann bei einem Teil der Rezipienten.
"Die AfD-Strategie der Umdeutung ist nicht neu"
Tatsächlich hätte Tobias R. die rassistische Motivation seiner Tat in seinem "Manifest" kaum expliziter darlegen können: Er schreibt, dass die "Existenz gewisser Volksgruppen an sich ein grundsätzlicher Fehler" sei und dass ganze "Völker komplett vernichtet werden müssen". Er schwadroniert von einer "Halbierung der Bevölkerungszahl" in Deutschland, weil nicht jeder Bürger "reinrassig und wertvoll" sei. Und dann versucht die AfD – die immer wieder gegen Muslime und gegen Menschen mit Migrationshintergrund hetzt und explizit auch gegen Shisha-Bars agitiert – die Morde als nicht politisch darzustellen. Als Tat eines "völlig geistig Verwirrten" (AfD-Fraktionschef Alexander Gauland) oder eines "Geisteskranken" (AfD-Chef Tino Chrupalla).
Das verfängt bei den Anhängern. Die AfD will die Tat umdeuten und sich damit von jeglicher Verantwortung freisprechen. Das Absurde ist, dass im rechtsradikalen Spektrum, auch in der AfD, Straftaten, insbesondere Gewaltkriminalität, zur politischen Gewalt umgedeutet werden: Wenn die von Nicht-Deutschen oder Menschen anderer Hautfarbe oder Religion begangen werden. Diese Strategie der Umdeutung ist nicht neu. Schon nach dem Mord an Walter Lübcke hatte der AfD-Abgeordnete Martin Hohmann Kanzlerin Angela Merkel die Verantwortung für die Tat zugeschoben. Fakt ist aber: Das rassistische Weltbild lässt sich nicht leugnen, die AfD blendet diese politische Dimension aber komplett aus.
Bei rechtsradikalen Attentätern betont die AfD die psychische Erkrankung, bei islamistischen Attentätern spielt das wiederum keine Rolle. Welche Gemeinsamkeiten gibt es?
Beide Ideologien wollen den Zusammenbruch der Gesellschaft und die Wiedererrichtung nach eigenem Vorbild. Eine neue Gesellschaft, die nach den eigenen Idealen definiert ist – da sind sich Rechtsradikalismus und Islamismus ähnlich. Auch die Strategien im Netz sind ähnlich, schon früh haben Islamisten den Messengerdienst Telegram für ihre Propaganda und Vernetzung genutzt. Die Rechten haben diese Entwicklung erst in den vergangenen zwei bis drei Jahren vollzogen. In den letzten Jahren konnten sie sich frei entfalten.
Dabei ist – wie nun bei Hanau – immer wieder die Rede von Einzeltätern oder "einsamen Wölfen".
Das muss man differenzieren. Viele Täter, die man unter dem Begriff zusammenfasst, entscheiden selbst, wann und wo sie zuschlagen und wie sie den Anschlag organisieren. Insofern sind sie tatsächlich Einzeltäter. Allerdings sind sie ideologisch eingebettet in ein großes, rechtsradikales Spektrum im Netz. In unterschiedlich starken Milieus radikalisieren sie sich und finden Gleichgesinnte. Von Stephan B., dem Attentäter von Halle, wissen wir, dass er vor der Tat 0,1 Bitcoins (mehrere hundert Euro, Anm. d. Red.) erhalten hat. Geld für den Anschlag? Wir wissen es bis heute nicht.
"Große Herausforderung für Sicherheitsbehörden"
Sie sagen, rechte Radikalisierung findet vielfach ganz offen, unverschlüsselt und an vielen Orten im Internet statt. Warum ist es dennoch so schwer, Anschläge wie in Halle oder Hanau zu verhindern?
Es gibt ein sehr ausdifferenziertes Feld rechtsradikaler Milieus. Selbst im gewaltaffinen Teil gibt es eine große Vielfalt. Als Sicherheitsbehörde da den Überblick zu behalten ist eine große Herausforderung. Auch angesichts großer Dynamiken, neuer Taktiken und Wege der Vernetzung. Die rechte Szene vernetzt sich seit Mitte der 1990er Jahre online und ist dabei gerade innerhalb der vergangenen Jahre unglaublich schnell vorangeschritten. Zusätzlich hat die extreme Rechte neue Plattformen selbst aufgebaut. Allerdings haben die Sicherheitsbehörden die Dinge auch sehr lange laufen lassen, so dass es heute große, stabile Netzwerke gibt. Dem nun beizukommen ist ungleich schwerer.
Woran hapert es besonders?
Es fehlt an Präventionsarbeit und an Ansprechpartnern für Menschen im Umfeld von Personen mit rassistischen, antisemitischen, antimuslimischen Gewaltfantasien. Auch wenn sich diese fast ausschließlich im Netz bewegen, äußern sie ihre Ideen und Gedanken durchaus offen. Wie beim Münchner OEZ-Anschlag: Entsprechende Äußerungen von David S. und einem rassistischen Mörder aus den USA, die sie auf der Gamingplattform Steam hinterließen, wurden von anderen Nutzern als Scherz wahrgenommen.
Erst am Mittwoch hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf gegen Hasskriminalität im Netz gebilligt. Gewaltaufrufe, Diffamierungen oder antisemitische Äußerungen sollen künftig deutlich härter bestraft werden. Ist das die richtige Strategie gegen Rechtsextremismus online?
Die traurige Wahrheit ist: Es ist nicht so, dass es bis dahin Straffreiheit gab. Es wird einfach zu wenig angezeigt und selbst bei den erfassten Fällen wir oft kein Urheber ermittelt oder Verfahren ziehen sich in die Länge. Es fehlt vielmehr an der Durchsetzung geltenden Rechts und nicht an neuen Straftatbeständen. Es fehlt an Kompetenz bei der Polizei. Und den Gerichten fehlen Kapazitäten. Der richtige Schritt wäre gewesen Kapazitäten aufzubauen, statt neue Regelungen einzuführen. Opfer von Bedrohungen müssen zudem direkt unterstützt werden, zum Beispiel durch mehr Kapazitäten für die mobilen Beratungen. Diese Menschen müssen ernst genommen werden. Ich wünsche mir, dass wir mehr auf die Opfer und ihre Angehörigen blicken.
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