Kommt es an Silvester zu Krawallen, folgt meist eine Debatte über gescheiterte Integration. Das lenkt von den eigentlichen Problemen ab, sagt Sozialphilosoph Robin Celikates. Er kritisiert eine Rhetorik, die in ein "Wir" und die "Anderen" aufteilt.
In der Silvesternacht 2022 griffen Jugendliche in Berlin-Neukölln Polizei und Rettungskräfte mit Feuerwerk an. Für einige stand das Problem schnell fest: junge Männer mit Migrationshintergrund, die den Staat verachten und die Integration verweigern.
Robin Celikates hält diese Erklärung für verkürzt und politisch gefährlich. Der Philosophie-Professor der Freien Universität Berlin sagt im Interview mit unserer Redaktion: "Eine wirkliche Lösung muss an den sozialen Ursachen des Problems ansetzen."
Herr Celikates, an Silvester entzünden sich regelmäßig Debatten um Migration und Integration. Warum ist das so?
An Silvester kommt es immer wieder zu Ausschreitungen und Gewalthandlungen, die skandalisiert werden und zu einer moralischen Panik führen können. Die Verbindung mit der Integrationsdebatte ist aber relativ neu. Das Neujahrsfest stellt traditionell eine gewisse Ausnahmesituation dar.
Inwiefern?
Silvester ist immer auch ein Fest, an dem die existierende Ordnung zeitlich begrenzt ein Stück weit ausgesetzt wird. Schon vor Jahrzehnten gab es in deutschen Medien schockierende Berichte über Jugendliche, die an Silvester randalieren, Böller werfen und die Polizei attackieren. Mit der Migrationsfrage hatte das aber nichts zu tun.
Seit wann werden beide Themen verknüpft?
Das geschieht seit den späten 1990er Jahren. Angetrieben wurde diese Entwicklung durch das konservative politische Lager, vor allem die Union, in Reaktion auf die Pläne der rot-grünen Bundesregierung, die doppelte Staatsbürgerschaft einzuführen und in Deutschland lebenden Menschen ohne deutschen Pass mehr Rechte einzuräumen. Das Leitbild der Integration und die Diagnose der Nichtintegration wurden bemüht, um dem etwas entgegenzuhalten. Statt die deutsche Staatsbürgerschaft zu "verschenken", so die Vorstellung, müsste diese erst kulturell durch Anpassung und ökonomisch durch Eigenständigkeit verdient werden. Damit wird aus einem Recht eine Gefälligkeit. Inzwischen kann man diese Rhetorik in den meisten Parteien beobachten.
Wo zum Beispiel?
Auch die SPD spricht immer stärker diese Sprache. Es war schließlich die sozialdemokratische Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die nach der letzten Silvesternacht von "gewaltbereiten Integrationsverweigerern" sprach, bevor überhaupt geklärt werden konnte, was in der Nacht genau passiert war.
An Silvester 2022 kam es im stark migrantisch geprägten Berlin-Neukölln zu Straßenschlachten zwischen jungen Randalierern und der Polizei. Später stellte sich heraus, dass unter den Verdächtigen die größte Gruppe deutsche Staatsbürger waren. Die Berliner CDU verlangte daraufhin die Veröffentlichung von deren Vornamen. Welche Vorstellungen schwingen in dieser Forderung mit?
Dahinter steht die höchst undemokratische Idee, dass nicht alle mit einem deutschen Pass Staatsbürger und Deutsche im gleichen Sinne sind. Es gibt Staatsbürger erster und zweiter Klasse und letztere werden nie richtig dazugehören. An diese Gruppe werden andere Maßstäbe angelegt als an als "echte" Deutsche. Außerdem steckt dahinter ein ziemlich realitätsfernes Verständnis der deutschen Gesellschaft. Als würden die "deutschen" Deutschen alle Hans und Simone und die eingebürgerten Achmed oder Nura heißen. Das suggeriert ein Bild von den Deutschen als homogenes Volk und spaltet die Gesellschaft in ein "Wir" und die "Anderen".
Robin Celikates: "Probleme werden auf eine identifizierbare Gruppe projiziert"
Der Jurist Ademir Karamehmedovic beklagte nach der Silvesternacht in einem "Spiegel"-Kommentar, dass das Ansprechen von Problemen in migrantischen Milieus Rechten und Rassisten überlassen würde, während Linke betreten schweigen.
Ich denke nicht, dass die Linken dazu schweigen. Es gibt aber unterschiedliche Arten, über die Probleme zu sprechen. Es gibt eine analytisch verkürzte und politisch gefährliche Weise, in der Probleme personalisiert und auf eine identifizierbare Gruppe projiziert werden. Das führt nicht besonders weit und stellt auch keine Antwort auf die bestehenden Herausforderungen dar.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Man kann den Herausforderungen nur adäquat begegnen, wenn man über die sozialen Kontexte spricht, in denen es etwa zu Ausschreitungen kommt. Dann müsste man sich zum Beispiel fragen, warum Jugendliche in Neukölln so viel Zeit auf der Straße verbringen, und kaum Orte haben, an denen sie sich sonst aufhalten können. Das hat wiederum mit sozialer Ungleichheit, knappem Wohnraum, Perspektivlosigkeit und Mittelkürzungen bei der Jugendarbeit zu tun. Diese Zusammenhänge entschuldigen keine Gewalt, die ja dessen ungeachtet strafrechtlich verfolgt wird. Eine wirkliche Lösung muss aber an den sozialen Ursachen des Problems ansetzen.
"Ein solidarisches Zusammenleben wäre für alle besser"
Auch 2016 gab es eine kontroverse Debatte, nachdem es an Silvester in Köln zu hunderten sexuellen Übergriffen gekommen war. Die Verdächtigen stammten überwiegend aus dem nordafrikanischen Raum. Muss man hier nicht auch die kulturelle Prägung der Täter thematisieren?
Wo es relevant ist, sollte man auch hierüber sprechen. Gleichzeitig muss man festhalten, dass gesamtgesellschaftliche Probleme, wie etwa sexuelle Gewalt, immer dann besonders stark skandalisiert werden, wenn sie sich einer bestimmten Gruppe zuschreiben lassen. Im Fall der Silvesternacht in Köln waren das arabische Migranten oder Menschen, die als solche klassifiziert wurden. Man muss diese diskursive Schieflage anerkennen, ohne die Probleme zu leugnen, die es auch in migrantischen Communities gibt. Die Stigmatisierung bestimmter Milieus hilft nicht weiter. Wir müssen uns fragen, wie wir als Gesamtgesellschaft sexuelle Gewalt, die auch in Deutschland leider zum Alltag vieler Frauen gehört, besser bekämpfen können, etwa durch Aufklärung, Schutz und Prävention.
Sie haben vorhin die diskursive Unterscheidung in ein "Wir" und die "Anderen" beschrieben. In wessen Interesse ist diese Spaltung?
Eigentlich kann das in niemandes Interesse sein. Letztlich wäre ein solidarisches und gelingendes Zusammenleben doch für alle besser. Hinter dieser Rhetorik stecken kurzfristige politische Kalkulationen. Das kann man aktuell sowohl in der CDU als auch in Teilen der SPD beobachten. Dort geht die Panik vor der AfD um, der man durch eine Rechtsverschiebung versucht das Wasser abzugraben. Eigentlich weiß man aber, dass diese Strategie nicht funktioniert. Am Ende stärkt sie nur den rechten Rand und verschärft die soziale Spaltung.
Was sollte man dieser Entwicklung entgegensetzen?
Ich würde mir wünschen, dass Politikerinnen und Politiker sich auch in der Verantwortung sehen, stärker solidarische Perspektiven zu entwickeln. Das könnte etwa bedeuten, den Jugendlichen, die an Silvester so oft im Fokus der Debatte stehen, einen besseren Zugang zu Bildung, Lehrstellen, Arbeit und Wohnraum zu ermöglichen. Es ist eine Frage des Zufalls, in welchem Viertel und in welche Familie man geboren wird. Dennoch prägt das die Menschen ein Leben lang. Wenn man Kindern und Jugendlichen dann auch noch sagt, dass sie eigentlich keine echte Chance haben als Teil der Gesellschaft akzeptiert zu werden, dann wenden sie sich von dieser ab und wir landen in einer Sackgasse. Aus dieser kommen wir nur raus, wenn wir unsere Prioritäten neu ordnen und darauf ausrichten, die Perspektiven aller hier lebenden Menschen zu verbessern.
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Über unseren Gesprächspartner
- Robin Celikates (Jahrgang 1977) ist Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der Freien Universität Berlin sowie stellvertretender Direktor des "Center for Humanities and Social Change". Er arbeitet unter anderem zu Fragen der Migration, der Demokratie und des zivilen Ungehorsams. Zusammen mit der Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev hat er über die Debatte zur Silvesternacht 2022 den Essay "Spaltung von oben. Zur anti-demokratischen und rassistischen Logik der Integration" geschrieben.
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