Der Aufstand der Wagner-Söldner hat Schwächen im russischen System offenbart und wirft Fragen auf. Politikexperten Fabian Burkhardt und Tobias Fella geben Antworten, wie es nun weitergeht.

Ein Interview

Was könnte Prigoschins Intention gewesen sein?

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Fabian Burkhardt: In den letzten Wochen und Monaten hat sich abgezeichnet, dass der Konflikt zwischen Prigoschin und dem Verteidigungsministerium sowie dem Generalstab eskaliert. Das russische Verteidigungsministerium hat kürzlich gefordert, dass alle sogenannten Freiwilligenverbände Verträge mit dem Ministerium unterschreiben. Das hat Prigoschin verweigert. Es könnte sein, dass es ein Ultimatum gegeben hat und Prigoschin nun aufs Ganze gegangen ist und alles riskiert hat. Vielleicht wollte er für die Wagner-Armee bessere Bedingungen heraushandeln. Andere Theorien besagen, dass es ein größeres politisches Motiv gab.

Was heißt das?

Burkhardt: Prigoschin könnte die Absetzung des Verteidigungsministers oder Generalstabschefs im Sinn gehabt haben, vielleicht auch einen Putsch gegen Putin. Die Statements von Freitag waren auch gegen Putin selbst gerichtet. So scheint Putin diese und den bewaffneten Aufstand in seiner Ansprache am Samstagvormittag auch selbst interpretiert zu haben.

Warum ist der Aufstand abgeblasen worden?

Wie kann es sein, dass der Aufstand so schnell abgeblasen wurde?

Tobias Fella: Prigoschin hat durch seinen Telegram-Kanal und soziale Medien ein hohes Maß an Deutungsmacht. Am Wochenende hat Prigoschin versucht, diese Macht in politische Macht zu übersetzen. Vermutlich hat er dabei aber nicht die Unterstützung erhalten, die er sich erhofft hat. Wesentliche Akteure haben sich hinter Putin gestellt. Vielleicht haben sich auch manche nicht aus der Deckung gewagt, die ihm Rückendeckung zugesichert hatten. Prigoschin hatte in jedem Fall nicht genug Macht, um sich durchzusetzen.

War es vielleicht sogar eine inszenierte Aktion von Putin selbst, um sich selbst als mächtiger darzustellen?

Burkhardt: Diese Spekulationen gibt es und es hat tatsächlich den Touch einer Inszenierung – die Auflösung des Ganzen durch die Vermittlung von Lukaschenko kam schließlich sehr unerwartet. Eigentlich waren die Wagner-Truppen schon recht nah vor Moskau und Beobachter haben erwartet, dass es in Vorstädten bald zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt. Der schnelle Abbruch ohne Widerstand ist sehr überraschend. Ich tendiere trotzdem dazu, dass es eine ernste Geschichte war, in der alle Seiten aufs Ganze gegangen sind und eine weitere, blutige Eskalation aufs Letzte abgewendet werden konnte.

Fella: Wenn Putin so etwas inszenieren müsste, um sich stark darzustellen, wäre es schon ziemlich weit gekommen. Die Erzählung von einer geschlossenen Heimatfront wird für Russland und in Russland ab jetzt noch schwerer zu erzählen sein. An diesem Wochenende gibt es keinen klaren Gewinner. Ich sehe kaum Bilder, die Putin als umfassenden Sieger oder machtvollen Staatsmann zeichnen. Er ist zwar weiter im Amt, aber Wagner konnte vermeintlich leicht eine russische Stadt besetzen. Die Russen selbst haben gesehen, wie der Krieg nach Russland hineinwirkt und sichtbar wird. Man fragt sich zum Beispiel: Wie gut funktioniert die russische Befehlskette im Innern?

Was bedeutet der Aufstand für Putin im Speziellen, schwächt er sein Ansehen?

Burkhardt: Auf jeden Fall. Es ist eine deutliche Schwächung von Putin als Herrscher im Staat. Dass eine Millionenstadt wie Rostow so schnell eingenommen werden kann und bewaffnete Fahrzeugkolonnen inklusive Panzer ohne großen Widerstand Richtung Moskau rollen, sorgt für viele Fragezeichen. Man fragt sich, ob Russland alles unter Kontrolle hat, wer dem Staat gegenüber loyal ist und wo es Auflösungserscheinungen gibt. Das betrifft vor allem die mittleren und unteren Ebenen der Armee, aber auch die Nationalgarde und die Kräfte des Innenministeriums.

Britisches Verteidigungsministerium: Ukraine macht "stetige" Fortschritte

Die ukrainischen Streitkräfte machen offenbar "stetige Fortschritte" in ihrer Offensivoperation. Das teilte das britische Verteidigungsministerium mit. Allerdings habe auch Russland kleine Fortschritte gemacht.

Fella: Es wäre verfrüht, ein Ende des Systems Putin zu folgern, aber es hat deutliche Kratzer erhalten. Ob Putin den Aufstand schon allein aus Reputationsgründen auf sich sitzen lassen kann, ist fraglich. In seinem System darf er kaum eine Schwäche zeigen. Wagner und Prigoschin im Speziellen sind auf jeden Fall in Gefahr. Putin ist aber an der Spitze der Machtpyramide geblieben, und vielleicht wurde der Zusammenhalt des inneren Zirkels sogar gestärkt. Putin wird sich aber fragen: Wer stand hinter Prigoschin? Säuberungswellen und Repressionen in naher Zukunft sind möglich. Vielleicht holt Putin zu einem Schlag gegen Verräter aus, der über Prigoschin hinausgeht. Vielleicht hat er Prigoschin sogar extra so lange gewähren lassen, um zu sehen, wer ähnlich denkt – um dann noch umfassender vorzugehen.

Krieg in der Ukraine – ohne Wagner-Truppen

Wie geht es nun für Russland im Krieg weiter, besonders ohne die Wagner-Truppen?

Fella: Die Menschen haben Prigoschin zugehört und teilweise mit ihm sympathisiert, weil er den Finger in die Wunde gelegt hat in Bezug auf die militärischen Schwachstellen. Nun, ohne sie oder mit weniger Wagner, wird sich zeigen: Wie viel von Prigoschins Rhetorik von wichtigen militärischen Wert der Gruppe war ein PR-Stunt und wie wichtig war Wagner wirklich? Durch den Aufstand haben sich Schwächen im russischen System gezeigt.

Auch die derzeit laufende ukrainische Gegenoffensive beeinflusst die Dynamik. Wenn sie keine großen Erfolge erzielt, werden die Risse im System vermutlich nicht zu großen Brüchen führen.

Welche Rolle spielt Belarus? Angeblich hat Lukaschenko ja den Frieden vermittelt.

Fella: Wir wissen nicht, was mit Prigoschin trotz aller Zusagen passiert, die in Belarus verhandelt wurden. Der ganze Deal, der getroffen wurde, lässt vieles im Unklaren. Lukaschenko ist sehr abhängig von Moskau und hat ein Interesse daran, Russland unter die Arme zu greifen.

Wie geht es weiter mit den Wagner-Söldnern?

Und wie geht es mit den Wagner-Truppen weiter?

Burkhardt: Viele Fragen sind noch offen. Nach aktuellem Stand soll Prigoschin nach Belarus gehen und eine Amnestie für Wagner-Söldner ausgesprochen werden. Der Aufstand wird also nicht strafrechtlich verfolgt. Ob sich die Wagner-Kämpfer unter das Kommando des Verteidigungsministeriums unterordnen, scheint noch offen.

Der Deal steht in jedem Fall auf wackeligen Beinen. Prigoschin wird wissen, dass es für ihn keine Sicherheitsgarantien geben kann und die Gefahr besteht, dass er auch physisch beseitigt wird. Es besteht natürlich auch die Frage, inwieweit Putin die Wagner-Soldaten noch im Kampf gegen die Ukraine nutzen kann. Es wird sich in den nächsten Tagen zeigen, inwieweit hierarchische Kontrolle in die Armee und paramilitärischen Verbände zurückgebracht werden kann.

Fella: Es könnte sein, dass Russland die Wagner-Soldaten in die Streitkräfte integrieren möchte. Es ist aber fraglich, ob und bis zu welchem Grad das möglich und erfolgreich ist. Wagner war immer sehr dezentral und flexibel strukturiert. Außerdem operiert die Privatarmee global. Vielleicht operiert Wagner oder eine Nachfolgeorganisation von Belarus aus weiter.

Vieles ist zum jetzigen Zeitpunkt hochspekulativ. Manche sehen sogar schon einen neuen Angriff auf die Ukraine aus Belarus durch ehemalige Wagner-Leute kommen. Ich rate aber dazu, den Ball flach zu halten und sich auf verschiedene Szenarien und ihre Folgen vorzubereiten, bis sich der Nebel des Krieges lichtet.

Zu den Personen:
Dr. Fabian Burkhardt ist Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und Co-Redakteur der Russland-Analysen, Ukraine-Analysen und des Russian Analytical Digest.
Dr. Tobias Fella ist ein Berliner Politikwissenschaftler. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).
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