• Schon vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich die Türkei vermittelnd zwischen den beiden Ländern positioniert.
  • Seit dem russischen Überfall haben sich diese Bemühungen weiter intensiviert. Schon Mitte März sprachen die Außenminister Russlands und der Ukraine in der Türkei miteinander.
  • Welche spezielle Rolle die Türkei als Vermittler einnimmt und welche Strategie Erdogan verfolgt, erklärt der Politik-Experte Günter Seufert.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen des Autors bzw. des zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Die Türkei positionierte sich schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine vermittelnd zwischen den beiden Ländern und hat diese Bemühungen inzwischen deutlich intensiviert. Im März hatten sich in der Türkei schließlich die Außenminister Russlands und der Ukraine getroffen und saßen dabei zum ersten Mal seit Beginn des russischen Angriffskrieges gemeinsam an einem Tisch – jedoch ohne nennenswerten Erfolg.

Jean-Paul Carteron, der Vorsitzende der NGO Crans-Montana Forum, die sich für den Weltfrieden engagiert, sagte am Rande des Antalya Diplomacy Forum der Zeitung Daily Sabah mit Blick auf den russischen Krieg gegen die Ukraine, dass die Macht der Türkei Hoffnung gebe, das internationale System zu beeinflussen. Die Sonderrolle der Türkei resultiert dabei aus einer besonderen Position, die das Land schon seit Jahren innerhalb der Nato-Staaten einnimmt.

Die Rolle der Türkei im Krieg Russlands gegen die Ukraine: Ambivalente Strategie

Auf der einen Seite unterstützt die Türkei die Ukraine militärisch und befürwortet die militärische Hilfe anderer Nato-Staaten. Sie beteiligt sich aber nicht an den Sanktionen der EU und der anderen Nato-Staaten gegen Russland und hält sie auch nicht für wirksam. Allerdings sprechen sowohl Präsident Erdogan als auch sein Außenminister Cavusoglu von einem "Krieg" Russlands gegen die Ukraine, während Putin und seine Anhänger nur den Begriff "Militäroperation" verwenden. Die ambivalente türkische Strategie muss, sagt der Türkei-Experte Günter Seufert, vor dem Hintergrund der Politik der letzten Jahre interpretiert werden.

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Die Türkei habe in den letzten Jahren versucht, sich zwischen den Großmächten zu etablieren und diese gegeneinander auszuspielen, erklärt Seufert: "Wir erinnern uns an die Gezi-Proteste 2013 in der Türkei. Damals hat Erdogan gesehen, dass sich Europa und die USA kritisch gegen seine Regierung positioniert haben. Und auch beim gescheiterten Putschversuch 2016 war die Kritik des Westens weniger auf die vermeintlichen Putschisten, denn auf die Rechtsstaats- und Menschenrechtsverletzung der Regierung im Umgang mit den Putschisten gerichtet."

Türkei sieht sich vom Westen schon lange falsch behandelt

An diesem Punkt habe die Türkei klar gesehen, dass der Westen sie nicht verstehe. "Dass die USA seit 2014 die Kurden in Syrien gegen den Islamischen Staat bewaffnet, kommt erschwerend hinzu. Für Erdogan sind das alles PKKler und sie stellen eine direkte Bedrohung für die territoriale Integrität der Türkei dar." Darüber hinaus konstruiert Erdogan aus dem Verhalten des Westens auch eine innenpolitische Bedrohung für die Türkei.

"Der vermeintliche Drahtzieher des Putsches, Fethullah Gülen, sitzt in den USA und die Türkei glaubt, dass die USA Bescheid wusste. In Ankara vermutet man, die USA und Europa wünschten einen Regimewechsel, und alle Forderungen der EU nach Menschenrechten oder rechtsstaatlichen Reformen dienten der Unterminierung der Türkei."

Die Türkei zwischen Russland und der Ukraine: Ein schwieriger Drahtseilakt

Ein zweiter Grund für die Positionierung der Türkei ist die abnehmende wirtschaftliche Bedeutung der EU im Vergleich zu China und der graduelle Rückzug der USA aus dem Nahen Osten. Die Türkei will sich als eigenständige Macht etablieren: "Die Kooperation mit Russland soll größere Unabhängigkeit von den USA ermöglichen."

Kurz nach den Gesprächen des ukrainischen und russischen Außenministers in der Türkei brach der türkische Außenminister Cavusoglu nach Moskau und Kiew auf, um die Mediatorenrolle seines Landes weiter zu pflegen. Das Verhältnis der Türkei zu Putin ist schwierig mit der Beziehung zur Ukraine unter einen Hut zu bringen.

Die Annexion der Krim im Jahr 2014 hatte die Türkei verurteilt und die UN-Resolution 68/262 zur Ungültigkeit des Referendums im Donbass unterschrieben, wie auch das türkische Außenministerium sich in einer Erklärung gegen die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk durch Moskau ausgesprochen hatte. Die Fahrt durch den Bosporus ist für russische Kriegsschiffe gesperrt, der türkische Luftraum ist aber, im Gegensatz zum Luftraum der anderen Nato-Staaten, für russische Flugzeuge offen.

Türkei denkt sicherheitspolitisch

"Die Türkei ist insofern unparteiisch, als sie sich nicht klar positioniert. Aus westlicher Sicht ist das eine negative Art von Unparteilichkeit. Während wir in Europa den Krieg als Bruch erkennen, gerade in Deutschland unsere Rüstungs- und Militärpolitik wie auch die europäische Sicherheit neu denken, gibt es ein solches Brucherlebnis in der Türkei nicht", sagt Seufert.

Seit mehreren Jahren wüten in unmittelbarer Umgebung der Türkei Kriege, wie beispielsweise in Syrien. "Die Türkei denkt immer sicherheitspolitisch. Sie kalkuliert immer die Möglichkeit eines Krieges mit Griechenland ein, sie interveniert militärisch in Syrien und im Irak und hat ihre Territorialverteidigung nie zurückgefahren", analysiert der Sicherheitsexperte.

"Auch die türkische Energiepolitik ist beispielsweise eine reine Sicherheitspolitik. Wenn es um erneuerbare Energien geht, dann nur deshalb, weil dadurch die Abhängigkeit von anderen Staaten reduziert wird," so Seufert. Denn die Türkei ist in hohem Maße von russischen Gaslieferungen abhängig. Und es gibt weitere, vielschichtige Verflechtungen.

Die Türkei zwischen Russland und der Ukraine: Vertrackte Gemengelage

So sind türkische Bauunternehmen in Russland hochaktiv, die Türkei ist Abnehmer für Getreide, und russische Touristen machen einen großen Anteil unter den Türkeibesuchern aus. Andererseits, sagt Seufert, "gab es zwischen der Türkei und der Ukraine in den letzten Jahren eine aufblühende Partnerschaft im Rüstungsbereich, es gab Kooperationen im Bereich gepanzerte Fahrzeuge und ein Abkommen mit türkischen Rüstungsfirmen zur Produktion türkischer Drohnen in der Ukraine."

Denn die Türkei, erklärt Seufert, habe auch ein Interesse daran, dass Russland im Schwarzen Meer nicht zu mächtig werde. Wenn also Russland Ressourcen im Krieg gegen die Ukraine verbraucht, ist das der Türkei nur recht.

Darüber hinaus war die Türkei im Jahr 2021 laut dpa der größte ausländische Investor in der Ukraine mit einem Volumen von 4,5 Milliarden US-Dollar und es gibt verschiedene Kooperationen der beiden Länder im Bereich der Infrastruktur. Am 3. Februar unterschrieben die beiden Länder ein neues Freihandelsabkommen, die Ukraine steht auf der Visa-Ausnahmenliste der Türkei und auch türkische Staatsbürger können umgekehrt die Ukraine mit dem Personalausweis bereisen. Ein Visum oder ein Reisepass sind seit 2017 nicht mehr nötig.

Zu Beginn viel Verständnis für Russland

Gleichzeitig war gerade zu Beginn des Krieges das Verständnis für Russland in der türkischen Bevölkerung sehr groß: "In der türkischen Presse war, auch aufgrund des Misstrauens gegen die USA, die Auffassung verbreitet, die Nato habe den Krieg provoziert. Gute 30 Prozent der türkischen Bevölkerung haben den Westen als Verursacher gesehen. Aufgrund der Kriegsbilder hat sich das mittlerweile wieder etwas gewandelt."

Die Bereitschaft, sich den Sanktionen des Westens anzuschließen, war daher von Beginn an nicht besonders groß. Mehr noch, die Türkei profitiert sogar teilweise von den westlichen Sanktionen: "Russisches Kapital fließt in die Türkei, weil es dort sicher ist. Turkish Airlines profitiert, weil Russland aus dem Westen nur noch über die Türkei angeflogen werden kann. Und weil die Türkei weiß, dass sie als Südflanke der Nato und wegen der Meerengen zwischen Mittelmeer und Marmarameer auf der einen und dem Schwarzen Meer auf der anderen Seite für die Nato strategisch wichtig ist, kann sie forsch und selbstbewusst auftreten."

Erdogan kann viel für seine Zustimmung zu Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands verlangen

Dasselbe gilt für den möglichen Nato-Beitritt von Schweden und Finnland, der derzeit noch am Veto der Türkei hängt. Denn Erdogan weiß, welche strategische Bedeutung die beiden Länder für das Sicherheitsbündnis haben: "Er kann viel für sein 'Ja' verlangen. Das konzentriert sich auf Forderungen an beide Länder, strenger gegen PKK-nahe Organisationen oder Sympathisanten des mutmaßlichen Putschverantwortlichen Fethullah Gülen vorzugehen", erklärt Seufert.

Kuleba nach Gespräch mit Lawrow: Keine Fortschritte

Erstmals seit Kriegsausbruch vor zwei Wochen haben sich Russlands Außenminister Sergej Lawrow und sein ukrainischer Kollege Dmytro Kuleba in der Türkei getroffen.

Erdogan hatte in einem Beitrag für The Economist bereits unmissverständlich unter Bezug auf die PKK klargemacht: "Die Türkei möchte, dass die Beitrittsländer die Aktivitäten aller terroristischen Organisationen einschränken und die Mitglieder dieser Organisationen ausliefern."

Denn 2023 stehen wieder Wahlen an und Erdogan ist bereits voll im Wahlkampfmodus. Dabei muss er seine Umfragewerte, die unter anderem aufgrund der schweren Wirtschaftskrise im Keller sind, stabilisieren. Eine außenpolitische Eskalation mit dem Westen, sagt Seufert, kommt "in der nationalistischen Bevölkerung der Türkei gut an und sichert Erdogan Stimmen."

Türkische Neutralität: Versuch der Vermittlung im Konflikt um Getreideexporte

Einen Wirtschafts- oder Tourismusboykott könnte sich Erdogan dagegen kaum leisten, sodass sein Vorgehen in Richtung Westen und Russland gut überlegt sein will. Die Vermittlerrolle wird er also weiter aufrechterhalten. Jüngst gehörte dazu der Versuch, im Streit um die Blockade von Schwarzmeerhäfen für Getreideexporte einen Erfolg zu erzielen.

Die Blockade wird international scharf verurteilt. So hatte der italienische Außenminister Luigi Di Maio laut der italienischen Nachrichtenagentur ANSA bei einer Konferenz zu Ernährungssicherheit in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gesagt: "Den Weizen zu blockieren bedeutet, Millionen von Kindern, Frauen und Männern als Geiseln zu nehmen und sie zum Tod zu verurteilen."

Vermittler zwischen Russland und Ukraine: "Es gibt kein anderes Land, das infrage kommt"

"Es wurde auch darüber spekuliert, ob die Türkei bei der Entminung der ukrainischen Häfen helfen könnte", sagt Seufert. Aus Angst vor einem russischen Angriff ist die Ukraine für eine Entminung des Hafens von Odessa allerdings nicht bereit. Der Sprecher der Regionalverwaltung von Odessa, Serhi Bratschuk, sagte in einem Video auf Telegram dazu: "Sobald die Zufahrt zum Hafen von Odessa von Minen geräumt wird, wird die russische Flotte dort sein."

Die westlichen Hoffnungen für eine erfolgreiche Vermittlung werden aber auch in Zukunft auf der Türkei liegen. "Es gibt jetzt erst einmal kein anderes Land, das infrage kommt. Die Türkei ist mit dem Westen verbandelt, schließt sich aber der westlichen Politik nicht an. Das ist ihr Alleinstellungsmerkmal. Sie profitiert von den Sanktionen, schließt sich ihnen selbst aber nicht an. Die USA und Deutschland haben die Türkei bisher wegen ihrer Nichtteilnahme an den Sanktionen kaum kritisiert."

Über den Experten: Dr. Günter Seufert leitet das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Verwendete Quellen:

  • ansa.it: Moscow blockade condemning millions to death – Di Maio
  • dailysabah.com: ‚Turkey’s power can influence international system‘
  • dpa
  • economist.com: Recep Tayyip Erdogan on Nato expansion

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