• Viele ukrainische Geflüchtete fahren aus Deutschland in die Ukraine und dann wieder zurück nach Deutschland. Busverbindungen in Richtung Osten sind oft schon Tage im Voraus ausgebucht.
  • Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz spricht von Sozialtourismus.
  • Doch viele Menschen sind hin- und hergerissen zwischen den beiden Ländern – und haben gute Gründe, für kurze Zeit in die kriegsgeplagte Heimat zurückzukehren.

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Lesia ist in Sicherheit. Im Frühjahr hat sie die ersten Kriegswochen in ihrer Heimatstadt Kiew erlebt. Als die Lage zu unsicher wurde, floh die damals 20-Jährige nach Deutschland. Jetzt ist sie weit weg von Raketen und Sirenen. Doch glücklich klingt sie am Telefon nicht. Im Gegenteil. Denn weit weg ist sie auch von ihrer Familie.

Lesias Weg führte nach Heidelberg – dorthin war bereits ihre beste Freundin geflohen. "Ich wollte auf keinen Fall alleine sein", sagt sie. Ihre Eltern blieben in der Ukraine. Sie können sich nicht vorstellen, ihr Heimatland zu verlassen, sagt Lesia. Auch weil sie Lesias älteren Bruder dort nicht alleine lassen wollen, der für den Kriegsdienst eingezogen wurde. Und so ist Lesia nun alleine in Deutschland, der Krieg hat ihre Familie auseinandergerissen.

Mehr als eine Million Geflüchtete in Deutschland

Europa erlebt seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Mehrere Millionen Menschen haben das Land verlassen, Polen hat die meisten von ihnen aufgenommen: Knapp 1,5 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine wurden dem UN-Flüchtlingshilfswerk zufolge dort offiziell registriert, die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder.

Doch auch in Deutschland haben mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine eine Bleibe gefunden. Zumindest zeitweise. Wie viele Personen genau Deutschland erreicht beziehungsweise wieder verlassen haben, lasse sich nicht mit Sicherheit feststellen, so der Mediendienst Integration. Wer einen ukrainischen Pass besitzt, kann ohne Visum in die Europäische Union einreisen und sich im Schengen-Raum frei bewegen.

Fernbus-Verbindungen nach Kiew auf Tage ausgebucht

Vielen Ukrainerinnen in Deutschland dürfte es so gehen wie Lesia: Sie sind hin- und hergerissen zwischen zwei Ländern. In ihrer Heimat können sie derzeit nicht wohnen, doch sie können auch nicht einfach mit ihr abschließen. In Deutschland haben sie Zuflucht gefunden, doch zu Hause fühlen sie sich hier nicht.

Im Frühjahr hatte Deutschland die Geflüchteten noch mit einer Welle der Hilfsbereitschaft empfangen. Doch inzwischen sind auch andere Töne zu hören. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hatte Ende September in einem Interview mit Bild TV gesagt: "Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine." Anlass waren Berichte in Telegram-Gruppen, wonach Fernbusse von Berlin nach Kiew Wochen im Voraus ausgebucht seien. Ukrainer würden zwischen den beiden Ländern "pendeln" und in Deutschland Sozialleistungen "kassieren", hieß es.

In der Tat zeigt ein Blick auf die Webseite des Anbieters Flixbus: Viele Fahrten zwischen Berlin und Kiew sind auf Tage im Voraus komplett oder bis auf wenige Plätze ausgebucht. Doch wahr ist auch: Für viele Menschen gibt es gute Gründe, die mindestens 30-stündige Fahrt auf sich zu nehmen.

Heimweh und Schuldgefühle

Die Menschenrechtlerin Oleksandra Bienert lebt seit 2005 in Deutschland und engagiert sich bei der Allianz Ukrainischer Organisationen. Sie ist im August ebenfalls in einem vollen Bus von Berlin nach Kiew gereist. In dem saßen allerdings nicht nur Passagiere aus Deutschland, sondern zum Beispiel auch aus Frankreich oder anderen europäischen Ländern.

Es sind ganz alltägliche Bedürfnisse und Zwänge, die die Menschen für eine begrenzte Zeit zurück in ihre kriegsgeplagte Heimat führen: Sie müssen zum Beispiel zum Zahnarzt oder nach dem verlassenen Haus sehen. Manche hätten im Frühjahr überstürzt gepackt und keine Kleidung für jede Jahreszeit mitnehmen können, sagt Bienert. Viele wollen aber auch Freunde oder Verwandte sehen. Sie haben vielleicht Schuldgefühle gegenüber denjenigen, die nicht in den Westen fliehen konnten – weil sie zu alt oder zu krank sind oder weil sie an der Front kämpfen müssen.

Erst Hoffnung – und dann neue Angriffe

Lesia ist zweimal zurück in die Ukraine gereist: im Mai und im September. Aus einem ganz einfachen Grund: "Ich wollte meine Eltern sehen, meine Brüder und meine Freunde." Sie versteckt nicht, dass sie in Deutschland unglücklich ist - mit 20 weit weg von ihrer Familie, in einem fremden Land.

Zur Sorge um Angehörige, zum Heimweh kommt die unstete Sicherheitslage: Im September war Lesia das zweite und bisher letzte Mal in Kiew. Da war sie noch voller Hoffnung. Der Krieg konzentrierte sich im Sommer auf den Süden und Osten des Landes. Durch die Hauptstadt dröhnte zwar ständig Sirenenalarm, doch die Menschen versuchten auch wieder, sich einen Alltag aufzubauen. Man ging ins Kino oder ins Restaurant, traf sich im Park oder auf den Straßen. Lesia dachte im September: Vielleicht werde ich ein letztes Mal nach Deutschland zurückfahren und dann dauerhaft zurück nach Kiew gehen.

Doch es kam anders. Seit dem 10. Oktober greift Russland auch Kiew und andere Städte im ganzen Land wieder mit Raketen und Drohnen an. Die Energie-Infrastruktur ist unter Beschuss. "Meine Eltern haben nicht mehr durchgängig Wasser und Strom", sagt Lesia.

"Was Krieg bedeutet, weiß man nur, wenn man ihn selbst erlebt hat"

So groß das Heimweh auch ist: Eine Rückkehr nach Kiew ist wegen der Sicherheitslage derzeit keine Option für sie. Lesia lernt jetzt Deutsch, studiert über Online-Kurse weiter an ihrer ukrainischen Universität. Gerne würde sie in Deutschland auch jobben – doch dafür reichen die Sprachkenntnisse noch nicht.

Den Vorwurf des Sozialtourismus findet sie ungerecht. Es trifft sie, wenn Deutsche sie jetzt fragen, warum sie in die Ukraine reise, wenn sie doch hierher geflohen sei. Was ein Geflüchteter zu machen und zu lassen hat – das scheinen manche Menschen in Deutschland besser wissen zu wollen als die Geflüchteten selbst. Doch Lesia sagt: "Was Krieg bedeutet, weiß man nur, wenn man ihn selbst erlebt hat."

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Oleksandra Bienert und ukrainischen Geflüchteten
  • Mediendienst Integration: Flüchtlinge aus der Ukraine
  • UNHCR: Ukraine Refugee Situation
  • Account von "BILD" auf Youtube: Merz beklagt "Sozialtourismus" durch ukrainische Flüchtlinge
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