• Der russische Einmarsch in die Ukraine geht bereits in die siebte Woche, gerade im Westen fragen viele nach wie vor nach den Hintergründen.
  • Der Philosoph und politische Analyst Wolodymyr Jermolenko versucht, das Vorgehen Russlands aus ukrainischer Perspektive zu erklären und kritisiert dabei auch Deutschland scharf.
  • Im Interview berichtet der 42-Jährige zudem über das Leben im Krieg, das dramatische Schicksal der Einwohner Mariupols und die Entschlossenheit der Menschen in der Ukraine.
Ein Interview

Herr Jermolenko, wo erreiche ich Sie gerade?

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Wolodymyr Jermolenko: Ich bin gerade in Kamjanez (Anm. d. Red.: das Interview wurde am 5. April geführt). Ich reise ständig hin und her zwischen der Westukraine und Kiew, wo ich wohne. Wie viele andere Menschen auch versuche ich zu helfen, wo ich kann. Mit meinem Kleinbus bringe ich humanitäre Hilfe und andere Hilfsgüter in die Hauptstadt und evakuiere von dort Menschen in den Westen.

Wie ist die Lage in Kiew jetzt, nachdem sich die russischen Streitkräfte aus den umliegenden Regionen zurückgezogen haben?

Die Menschen kehren zurück, aber Kiew ist immer noch halb leer. Erst vor Kurzem haben die Restaurants im Stadtzentrum wieder geöffnet. In den Supermärkten gibt es jetzt sogar zu viele Lebensmittel, teils sind sogar die Gänge vollgestellt. Aber die Hauptstadt sieht immer noch aus wie eine Festung, verbarrikadiert und mit vielen Kontrollpunkten. Wenn man mit dem Auto nach Kiew reinfährt, braucht man sehr viel Zeit, manchmal zwei Stunden. Und Navigationssysteme sind mehr oder weniger nutzlos, da viele Straßen mit großen Betonblöcken blockiert und nur zwei Brücken über den Dnipro offen sind (das ist der breite Strom, der mitten durch Kiew fließt, Anm. d. Red.). Es gibt nur eine einzige Autobahn, die von Odessa in den Süden, die befahrbar ist. Auf dieser Straße wird kein Benzin und kein Diesel verkauft. So soll verhindert werden, dass russische Panzer dort auftanken können.

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"Butscha ist kein Einzelfall"

Nun ist dieser Tage aber nicht Kiew, die Hauptstadt der Ukraine und Ihre Heimatstadt, auf den Titelseiten der internationalen Medien, sondern der kleine Vorort Butscha. Von dort erreichen uns täglich mehr Beweise für russische Gräueltaten. Wie präsent ist Butscha in der Ukraine im Allgemeinen und in Kiew im Besonderen?

Butscha ist sehr präsent, Fotos und Videos von dort waren und sind auf allen ukrainischen Fernsehkanälen zu sehen. Ich habe Freunde, die in Butscha gelebt haben. Sie sind glücklicherweise gleich zu Beginn des Krieges geflohen, während der ersten Kämpfe am 24. Februar. Aber Butscha ist kein Einzelfall, andere Vororte von Kiew haben ebenso schwer gelitten: Irpin, Hostomel, Borodjanka und viele Dörfer an der Autobahn nach Schytomyr. In Kiew selbst habe ich sehr oft Luftangriffe gesehen und massive Explosionen gehört.

Wie erinnern Sie sich an Butscha?

Butscha war wunderbar. Es war ein wunderschöner, von Wäldern umgebener Vorort. Ein Ort, an dem Leute aus der Mittelschicht und Kreative ihre Häuser kauften, morgens draußen Kaffee tranken und in der Natur joggen gingen. Mit dem Krieg ist das alles auf einmal zusammengebrochen.

"Die Menschen sterben in ihren Häusern, aber niemand holt sie raus"

Nicht nur aus Butscha, sondern auch aus Mariupol, Charkiw, Tschernihiw und vielen anderen ukrainischen Städten gibt es Bilder massiver Zerstörung.

Die Lage in Mariupol dürfte in der Tat viel, viel schlimmer sein als in Butscha. Dort gibt es Hunderte von Toten, aber in Mariupol kann die Zahl leicht in die Zehntausende gehen. Insider haben mir gesagt, dass es bereits 30.000 bis 40.000 Tote geben kann - und die Zahl steigt mit jedem Tag der Belagerung. Vor dem Krieg war Mariupol eine Stadt mit etwa einer halben Million Einwohnern. Nun sind die Menschen dort bereits über einen Monat lang ohne Wasser, Lebensmittel, Strom und Heizung. Die Menschen sterben nicht nur durch den ständigen Beschuss, sondern auch durch Hunger, Dehydrierung und die Kälte. Es gab Tage, an denen die Temperatur auf unter minus 10 Grad fiel. Die Menschen sterben in ihren Häusern, aber niemand holt sie raus und begräbt sie. Es gibt keine Rettungsdienste, die Leichen liegen immer noch im Schutt oder unter eingestürzten Wohnblöcken. Doch anders als in Butscha, wo inzwischen internationale Journalisten und Ermittler anwesend sind, haben wir in Mariupol nur die Bilder derjenigen, die es bisher aus der Stadt geschafft haben. Allein diese Einblicke lassen schon erahnen, wie katastrophal die Lage sein muss: "Mariupol ist Srebrenica plus Aleppo in einem", wie es mein Kollege Oleksandr Suschko ausdrückte.

Was meinen Sie, wie wird der Westen darauf reagieren?

Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß, ist, dass jeder einen Atomkrieg fürchtet - aber wie lange können wir uns noch fürchten? Klar ist: Die Russen werden nicht aufhören. Ihre Niederlage bei Kiew wird ihre Bemühungen um die Eroberung des gesamten Donbass nur noch verstärken. Deshalb braucht die Ukraine Waffen, vor allem für die Luftabwehr. Am Boden ist Russland nicht in der Lage, uns zu schlagen, denn die russischen Soldaten sind unmotiviert und nur schlecht ausgebildet.

"Dieser Krieg schadet der Ukraine, er schadet Russland, er schadet Europa"

Wie würden Sie die derzeitige Gefühlslage der Ukrainerinnen und Ukrainer beschreiben?

Es herrscht Wut, aber das war schon vor der Invasion im Februar so. Diese tiefe, tiefe Wut rührt daher, weil dieser Krieg absolut sinnlos ist. Er schadet der Ukraine, er schadet Russland, er schadet Europa. Dieser Krieg basiert ausschließlich auf der erfundenen Erzählung, dass eine von Nazis regierte Ukraine Russland bedrohe. Und Russland führt diese Erzählung immer weiter fort. Erst vergangene Woche veröffentlichte die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Novosti einen Artikel, der behauptete: Alle Ukrainer sind Nazis. Dieser Text rechtfertigt zudem einen Völkermord in der Ukraine.

Jedes Mal, wenn ich auf Facebook bin, ist meine Timeline voll von Zerstörung und toter Menschen: Dieser Freund eines Freundes ist gestorben, dieser Bekannte oder diese Person, die ich kenne. Diese Art täglicher Nachrichten erhöht jedoch nur die Entschlossenheit der Ukrainer. Daher gibt es hierzulande kaum Unterstützung für irgendwelche Zugeständnisse, sondern vor allem Bereitschaft, zu kämpfen und die Russen aus dem Land zu werfen. Die Befreiung der Regionen Kiew und Tschernihiw hat neuen Schwung gegeben, einen neuen Geist geschaffen.

Hat die Europäische Union und insbesondere Deutschland die Ereignisse in der Ukraine unterschätzt?

Deutschland ist tatsächlich das EU-Mitgliedsland, das der Ukraine am zögerlichsten hilft. Zugleich wissen wir es zu schätzen, dass es in Deutschland so viel Fürsorge für ukrainische Flüchtlinge gibt. Die deutsche Gesellschaft sollte aber auch verstehen: Friedenskundgebungen sind gut, aber sie können Wladimir Putin und den Krieg nicht aufhalten.

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"Russland setzt Gaslieferungen als Waffe ein"

In Deutschland wird diskutiert, ob ein Energieembargo gegen Russland helfen könnte ...

... Natürlich könnte das helfen. Die Ukrainer wissen, dass dies eine sehr schwierige Frage für Deutschland ist. Bei Kohle und Öl ist dieser Schritt sicher leichter zu machen als bei Gas. Es braucht also Zeit. Dennoch sollten wir nicht vergessen: Die Ukraine sagt Deutschland seit 2004, also seit fast zwei Jahrzehnten, dass Russland Gaslieferungen als Waffe einsetzt. Russland nutzt westliche Devisen, um sich auf eine militärische Aggression vorzubereiten. Wir haben die gleiche Warnung beim Bau von Nord Stream und noch mehr bei Nord Stream 2 ausgesprochen. Aber die Deutschen sagten immer wieder, dass alles in Ordnung sei. Jetzt sehen wir, dass nichts in Ordnung ist und wir unsere Zeit vergeudet haben.

Und nun ist es zu spät?

Ja. Und in Deutschland sehe ich, dass die Strategien immer noch nur sehr langsam geändert werden. Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ist das Interesse der Deutschen an der Ukraine vergleichsweise gering. Ich habe den Eindruck, dass die deutschen Medien und die Politik bei ukrainischen Stimmen ziemlich zurückhaltend sind und sich hauptsächlich auf die Expertise von Deutschen verlassen. Das ist ziemlich gefährlich.

Deutschland hat es versäumt, die große Bedrohung zu erkennen, die entstanden ist. Putin ist nicht der neue Hitler und die Russen sind auch nicht die neuen Nazis. Aber es handelt sich definitiv um eine neue Art des Bösen, mit gewissen Ähnlichkeiten zum italienischen und deutschen Faschismus und einer zunehmenden Nähe zum Stalinismus. Dieser wertet alles mögliche Leben ab, auch das seiner eigenen Bürger. Das ist genau das, was wir bei Russlands Umgang mit dem Leben seiner Soldaten und der einfachen Ukrainer sehen. Diese extreme Grausamkeit wurde schon lange vor der jetzigen Invasion vorbereitet, und zwar durch die systematische Abwertung nicht nur von Ukrainern, sondern auch von Europäern und Amerikanern im russischen Staatsfernsehen. Experten haben schon immer darauf hingewiesen, aber niemand wollte es wahrhaben.

"Russlands Hauptziel ist nicht, zu gewinnen, sondern dass alle anderen verlieren"

Was war der größte Fehler der Europäischen Union und der USA?

Als sich der Westen Russland zuwandte, dachte man, dass die Russen genauso denken wie die Amerikaner, Deutschen oder Franzosen, dass sie alle die gleichen Interessen haben. Ich behaupte, dass die russische Gesellschaft anders ist. Sie ist nicht an einem positiven Gewinn interessiert, sondern an negativen Änderungen. Russland ist ein verwundetes Imperium, das - wie jedes andere verwundete Imperium auch - hauptsächlich auf die Vergangenheit blickt und deshalb versucht, dorthin zurückzukehren und Rache zu nehmen. Russlands Hauptziel ist nicht, zu gewinnen, sondern dass alle anderen verlieren, in jedem Fall mehr als man selbst. Dass der Feind mehr leidet als man selbst. Das ist eine ganz andere Logik als sie in Europa verfolgt wird. Und die Deutschen verstehen das nicht. Sie überlegen immer noch, was sie Russland anbieten können, um wenigstens etwas Entgegenkommen zu erreichen.

Wenn diese Logik zutrifft, dann kann es gar keinen positiven Ausgang des aktuellen Krieges geben?

Ja, genau deshalb ist es im Moment sehr schwierig, einen Ausweg zu finden. Die Ukraine muss in diesem Krieg siegreich sein oder Russland zumindest erheblich schaden.

Aber wie wird das alles enden?

Das hängt von der Entschlossenheit ab, nicht nur der Ukrainer. Die ukrainischen Truppen haben bewiesen, dass sie einen russischen Angriff nicht nur aufhalten, sondern sogar abwehren können. Die Hauptfrage ist: Wie viele Ressourcen werden wir haben und wie viele wird Russland haben - militärisch, finanziell, wirtschaftlich. Wenn der Westen seine Sanktionen fortsetzt, könnten wir irgendwann an einen Punkt gelangen, an dem die Ukraine noch kämpfen kann, Russland aber nicht mehr. Das ist das Endziel.

Über der Experten: Wolodymyr Jermolenko ist Philosoph, politischer Analyst und Chefredakteur des Multimedia-Projekts "Ukraine World", das Artikel, Podcasts, Erklärvideos, Analysen und Bücher über die Ukraine in englischer Sprache produziert und veröffentlicht. Der 42-Jährige lehrt an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie und gehört zu den bekanntesten Essayisten der Ukraine.
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