Die EU arbeitet am zwölften Sanktionspaket gegen Russland seit Beginn des Ukrainekriegs. Die USA und Großbritannien verhängen weitere Sanktionen gegen die Hamas, die Israel angegriffen hat. Was bringen Sanktionen? Verhindern sie gar den Frieden? Eine Analyse mit Einschätzungen von Sanktionsforscher Christian von Soest.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Clemens Sarholz sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es besteht ein nahezu allgemeiner Konsens darüber, dass gravierende Verstöße gegen internationale Regeln eine harte Reaktion erfordern. Man denke an Russlands Invasion der Ukraine oder an das Apartheitsregime in Südafrika. Sanktionen sind Waffen, die der Westen gerne als Antwort für diese Verstöße einsetzt.

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Doch mit diesen Maßnahmen stellen sich immer wieder die gleichen Fragen: Wann wirken Sanktionen? Wann treffen sie den Richtigen? Wann hören sie auf zu wirken? Oder schlimmer noch: Wann wenden sie sich gegen die Interessen des eigenen Landes?

Wirtschaftssanktionen sind ein beliebtes Instrument

Wirtschaftssanktionen sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wichtiger geworden sind, um terroristische Netzwerke zu zerschlagen, Menschenrechtsverletzungen zu ahnden, den Bau einer Atombombe im Iran zu verhindern oder um Diktatoren zu bestrafen.

Dabei ist die Zahl der von den USA, der EU und den Vereinten Nationen verhängten Sanktionen stetig gestiegen. Seit den 1990ern hat sich die Anzahl mehr als verdoppelt. Die "Specially Designated Nationals and Blocked Persons"-Liste (SDN) der USA führte im November 2023 auf knapp 2.300 eng bedruckten Seiten mehr als 60.000 Einträge. Allein die Trump Administration hat laut "Bloomberg" pro Tag drei neue Namen auf die Sanktionsliste der Vereinigten Staaten gesetzt. Eine Rate, die nur noch von Präsident Joe Biden getoppt worden ist, nach Russlands Einmarsch in der Ukraine. Auf der EU-Sanktionsliste fanden sich im November 4.787 Einträge.

In Anbetracht der steigenden Zahlen ist es nicht nur sinnvoll, zu verstehen, wann Sanktionen ein wirksames Instrument für erfolgreiche Diplomatie sein können. Sondern auch, wann sie, wenn sie nicht richtig eingesetzt werden, die Bemühungen um Frieden, Menschenrechte und demokratische Normen auf der ganzen Welt untergraben können.

Was kosten uns Sanktionen?

Sanktionen werden gerne verwendet, weil sie als weniger blutig und teuer gelten als militärische Einsätze. Umfassende Wirtschaftssanktionen werden in Wirklichkeit jedoch von der Zivilbevölkerung getragen, die ihre Last schultern müssen: Im Irak sollen mehrere Hunderttausend Menschen deswegen gestorben sein.

In Syrien haben die Sanktionen der Katastrophenhilfe den Zugang in die Krisengebiete erschwert. Einige Forscher sind der Meinung, dass die internationale Isolation Rhodesiens (heute Simbabwe) im Jahr 1965, als Antwort auf die weiße Minderheitsregierung, die der schwarzen Bevölkerung keine Rechte eingeräumt hat, dazu geführt, dass der Widerstand des Regimes sogar noch gestärkt worden ist.

Zwar werden Sanktionen verhängt, um gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen, doch hat sich in der Vergangenheit schon häufiger gezeigt, dass Proteste infolge der Wirtschaftssanktionen niedergeknüppelt werden. Solche Proteste gehören zum Kalkül in der Sanktionierungslogik. Durch den wirtschaftlichen Druck möchte man auch die Bürger bewegen, Druck auf die Regierung auszuüben und sie so zum Umdenken bewegen.

Daraus folgt, dass harte Sanktionen die Länder mitunter in humanitäre Krisen führen. Je schmerzhafter der Druck, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Zivilbevölkerung auf den Druck reagiert. Treffen die Sanktionen dann auch noch die politischen und wirtschaftlichen Eliten, proben sie im besten Fall ebenfalls den Aufstand – wenn sie das aber nicht tun, wirken die Sanktionen sehr viel schwächer.

Wie der Sanktionsforscher Christian von Soest im Gespräch mit unserer Redaktion auf den Punkt bringt, sind "die wirtschaftlichen Kosten von Sanktionen jedoch kein Gradmesser für politischen Erfolg". Ganz offensichtlich hat sich das russische Militär zum Beispiel nicht aus der Ukraine zurückgezogen, obwohl die Wirtschaftssanktionen das Land hart treffen.

Im Iran dienen die internationalen Sanktionen dem Regime sogar als Legitimationsressource, die die USA als "großen Satan" dastehen lässt – als verantwortlich für die hohen Preise und die leeren Supermarktregale. In solchen Fällen können Sanktionen sogar eine Wagenburg-Mentalität befeuern, sodass sich die Bevölkerung nicht vom Regime abwendet, sondern sogar enger zusammenrückt. Wenn das geschieht, richten sich die Zwangsmittel sogar gegen die Bemühungen um Frieden und Demokratie. Das Regime bindet die Bevölkerung enger an sich, indem es die Sanktionen als Angriff auf das eigene Volk umdeutet.

Wann wirken Sanktionen am besten?

Laut des Wirtschaftswissenschaftlers Gary Hufbauer sind Sanktionen in nur einem Drittel der Fälle zumindest teilweise erfolgreich, sodass sie zu einem Politikwechsel führen. Man könnte also die Frage stellen, wieso sie so häufig eingesetzt werden, wenn sie so wenig Erfolg haben. Da die Welt stets vernetzter geworden ist, ist die Bereitschaft für militärische Interventionen rapide gesunken - ein herkömmlicher Krieg würde sehr viel höhere Kosten verursachen als ein Wirtschafts-, Finanz- oder Waffenembargo. Man muss sich also in Zukunft darauf einstellen, dass der Einsatz von Sanktionen noch mehr zunehmen wird. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen sie besonders effektiv wirken.

Einige Faktoren gelten als gesichert: Beispielsweise müssen Sanktionen möglichst konsequent umgesetzt werden. Wie Christian von Soest sagt, fließen Handels- und Finanzströme durch jede undichte Stelle, die die Strafmaßnahmen zulassen. Der iranische Außenminister Mohammad Javad Zarif erklärte 2019 stolz, dass sein seit Jahrzehnten von den USA isoliertes Land "einen Doktortitel in der Umgehung von Sanktionen" habe, wie "NBC News" berichtet. Ein ständiges Katz- und Maus-Spiel.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Während Russland mit Sanktionen belegt ist, die die Lieferung von Mikrochips und Halbleitern verbieten, werden diese elektronischen Bauteile, die man sowohl für Waschmaschinen als auch für Panzer benötigt, offensichtlich über die Türkei oder Aserbaidschan an Russland weitergeleitet. Von Soest schreibt in seinem neu erschienen Buch "Sanktionen": "Experten schätzen, dass Dual-Use-Technik aus Europa im Wert von über einer Milliarde Dollar im russischen 'Geisterhandel' verschwunden ist und nie ihre vorgeblichen Ziele Kasachstan, Kirgistan oder Armenien erreicht hat." Die Wirksamkeit von Sanktionen hängt demnach von ihrer Umsetzung ab.

Sanktionen brauchen klare Ziele

Sanktionen sind am wirksamsten, wenn sie eindeutig formuliert und mit dem Versprechen verbunden sind, dass sie bei der Erfüllung der Forderungen aufgehoben werden. Das vielleicht beste Beispiel dafür zeigte sich während der Apartheid in Südafrika. Es wurden 1986 fünf Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen festgelegt, eine Forderung davon war die Freilassung von Nelson Mandela und allen anderen politischen Gefangenen.

Erfolgversprechend kann aber auch schon die Androhung von Zwangsmitteln sein, da sich das Gegenüber in diesem Stadium noch, wie von Soest erklärt, "ohne großen Gesichtsverlust zurückziehen" kann. Aus diesem Grund würden Verhandlungen um Sanktionen oft hinter verschlossenen Türen geführt.

Westliche Regierungen platzieren ihre Drohungen zur Abschreckung allerdings auch gerne in den Medien, so wie Bundeskanzler Olaf Scholz dies vor dem Überfall auf die Ukraine tat. Das Beispiel zeigt aber auch, dass Regierungen wie der Kreml höchste Kosten für das eigene Land in Kaufnehmen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Das kann dazu führen, dass Sanktionen über viele Jahre nicht aufgehoben werden, obwohl sie schon längst keine Wirkung mehr erzielen. "Politisch Verantwortliche gestehen ungern öffentlich ein, dass ihr Ansatz gescheitert ist", sagt von Soest. Und weiter: "Erfolglose Sanktionen zu beenden wirkt oft nicht nur wie ein Einknicken, sondern schnell auch wie eine implizite Unterstützung der sanktionierten Regierung." Wie kann der Westen mit einem vormals sanktionierten Diktator wieder Handel treiben? Aus diesem Grund schlägt der Experte vor, schon vor Beginn der Sanktionen ihr Ende mitzudenken, Zwischenziele festzulegen und Ausstiegsszenarien zu entwickeln.

Sanktionen professionalisieren

Sanktionen also, so attraktiv sie scheinen mögen, funktionieren selten ohne spezifische Ziele in Verbindung mit Kriterien für die Aufhebung. Sie müssen außerdem konsequent durchgesetzt werden. Das hat auch die Bundesregierung erkannt und die "Sanktionsdurchsetzungsgesetze" 1 und 2 auf den Weg gebracht.

Bundesfinanzminister Christian Lindner geht noch einen Schritt weiter und möchte ein Bundesfinanzkriminalamt schaffen. Mit dieser behördlichen Verantwortung möchte die Regierung Kompetenzen bündeln und mit einer neuen Strategie Sanktionen effektiver anwenden. Denn es ist, wie Christian von Soest sagt: "Sanktionen wirkungsvoller durchzusetzen, erfordert einen langen Atem."

Über den Gesprächspartner:

  • Prof. Dr. Christian von Soest forscht zu internationalen Sanktionen, autoritären Regimen und Außenpolitik. Er ist Leiter des Forschungsschwerpunkts "Frieden und Sicherheit" am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA). Kürzlich erschien sein neues Buch "Sanktionen – Mächtige Waffe oder hilfloses Manöver?" im Verlag Frankfurter Allgemeine Buch.

Verwendete Quellen:

Baerbock

Baerbock zeigt sich enttäuscht von Russland-Sanktionen

Trotz massiver wirtschaftlicher Strafmaßnahmen gegen Russland wächst die russische Wirtschaft. Außenministerin Annalena Baerbock hat sich angesichts dessen enttäuscht gezeigt. (Bildcredit: Wochit/Imago Images)
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