Im Zuge der Haushaltsstreitereien der Ampel stehen auch Sozialausgaben erneut auf dem Prüfstand. Insbesondere das Bürgergeld polarisiert seit seiner Einführung. Wird die Mitte zu stark belastet? Fragen an den Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Dullien.

Nach wochenlangem Streit hat sich die Ampel auf einen Haushalt geeinigt. Doch in dem klafft noch immer eine Finanzierungslücke von 12 Milliarden Euro.

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Die FDP sieht das Problem beim Staat. Der hat aus Sicht der Liberalen ein Ausgabenproblem und muss Geld sparen. Einen Vorschlag, wo man da ansetzen könnte, hat derweil die Union – und zwar beim Bürgergeld. Die Rechnung der beiden Parteien: Wenn am Sozialstaat gespart wird, könnte der Steuerzahler stärker entlastet werden.

Sebastian Dullien hingegen, sieht darin einen Rechenfehler. Der Makroökonom der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung glaubt nicht daran, dass der arbeitenden Bevölkerung mit Kürzungen beim Bürgergeld geholfen ist. Er sieht einen ganz anderen "Elefanten im Raum" und die Steuerversprechen der Union in Gefahr.

Herr Dullien, können wir uns den Sozialstaat noch leisten?

Sebastian Dullien: Es gibt keine Anzeichen, dass der Sozialstaat zu teuer geworden ist. Im Vergleich geben wir heute einen ähnlich großen Teil des Bruttoinlandsproduktes für ihn aus wie noch vor fünf oder 15 Jahren. Also ja, wir können uns den Sozialstaat leisten. Ich finde, das ist auch die falsche Diskussion.

Inwiefern?

Sie zielt nur auf die Kosten, nicht aber auf den Nutzen ab: Der Sozialstaat nimmt den Menschen viele große Lebensrisiken ab. Wir haben zum Beispiel ein Rentensystem, das für die allermeisten Menschen eine vernünftige Grundabsicherung im Alter garantiert.

Bei zukünftigen Generationen könnte das anders aussehen.

Realistische Simulationen legen nahe, dass das Rentensystem zwar ein bisschen teurer werden wird – aber auch, dass es bei einer soliden Grundabsicherung bleibt. Wir dürfen unser Sozialsystem nicht kaputtreden.

Grüne und SPD wollen eine Reform der Schuldenbremse, die FDP spricht von einem Ausgabenproblem. Gibt der Staat zu viel Geld aus?

Es wird zwar immer gesagt, es gibt ein Ausgabenproblem – es kann aber niemand konkret sagen, wo in relevanten Größenordnungen eingespart werden könnte. Wir brauchen enorme Summen für unsere Infrastruktur, die Dekarbonisierung, Rüstungsausgaben: Wir reden von über 600 Milliarden Euro allein für öffentliche Investitionen in den kommenden zehn Jahren. Diese Summen können wir weder durch Subventionsabbau noch Einschnitte beim Bürgergeld einsparen.

Apropos Bürgergeld: Vor allem die Union kritisiert in diesem Zusammenhang, dass sich Leistung nicht ausreichend lohnt. Hat sie recht?

Arbeiten lohnt sich relativ zum Nicht-Arbeiten immer. Natürlich kann man aber fragen, ob der Abstand zwischen staatlichen Leistungen und Einkommen immer groß genug ist.

Wie meinen Sie das?

Stellen wir uns einen Haushalt vor: ein Einzelverdiener, Partnerin, zwei kleine Kinder, Mindestlohn. Das ist ein Haushalt mit einem Bruttogehalt von etwa 2.200 Euro. Da gibt es Kindergeld obendrauf, Kinderzuschlag, Wohngeld. Anders könnte diese Familie nicht existieren. So hat sie am Ende bei einer Stadt mit mittlerem Mietniveau etwa 3.400 Euro. An dieser Stelle kann man nicht sagen, dass sich das gegenüber einer Bürgergeldfamilie, die zwischen 1.700 und 1.900 Euro zuzüglich Mietkosten und Heizung bekommt, nicht lohnt.

"Wir müssen den Sozialstaat anders denken."

Sebastian Dullien, Ökonom an der Hans-Böckler-Stiftung

Aber?

Es gibt eine Grenze, bei der das Einkommen noch immer relativ niedrig ist, aber die unterstützenden Leistungen weniger werden. Am Ende ist dann trotz Mehrarbeit oder einem etwas höheren Gehalt als dem Mindestlohn trotzdem nicht viel mehr Geld da als bei der Beispielfamilie. In diesem Zwischenbereich haben wir ein Gerechtigkeitsproblem.

Wie lässt sich das lösen?

Man könnte die Einkommensgrenze für Wohngeldberechtigte anheben, das wird dann aber schnell sehr teuer. Die Menschen im unteren Einkommensbereich könnten auch durch geringere Sozialbeiträge entlastet werden – dann müssen andere aber stärker belastet werden. Einfach ist die Lösung nicht. Ein großes Problem ist im Übrigen auch die Wohnsituation in Deutschland. Hätten wir einen Wohnungsmarkt mit bezahlbaren Mieten, müsste der Staat nicht so viel Wohngeld auszahlen. Aus meiner Sicht müssen wir den Sozialstaat anders denken und stärker auf die Daseinsvorsorge achten.

Was muss jetzt passieren?

Wir brauchen einen massiven Ausbau des öffentlichen Wohnungsbaus, nicht nur des sozialen, sondern des generellen. Auch die Kita-Krise ist ein Problem. Das ist öffentliche Infrastruktur, wenn die nicht funktioniert, können das Menschen privat nicht ausgleichen. Gerade dann nicht, wenn sie zum Mindestlohn arbeiten. Ähnliches gilt für den unzuverlässigen ÖPNV, der trifft gerade Menschen, die sich kein Auto leisten können.

Könnte eine Vermögenssteuer helfen?

Das Problem ist, dass die Vermögensteuer in ihrer bisherigen Ausgestaltung verfassungswidrig erklärt wurde. Das liegt daran, dass Immobilien wesentlich günstiger besteuert wurden als andere Vermögensformen. Seitdem hat sich die Politik nicht auf eine verfassungskonforme neue Form der Vermögenssteuer einigen können. Dabei wäre eine Reform der Vermögenssteuer sinnvoll. Das würde auch das Gerechtigkeitsgefühl im Land allgemein stärken. Das Problem ist aber nicht ganz so einfach zu lösen.

Warum nicht?

Gegner der Vermögenssteuer sagen, dass bei der Steuer jedes Jahr eine neue Bewertung aller Vermögensgegenstände gemacht werden müsste. Da haben sie auch einen Punkt. Schon die Debatte um die Grundsteuer zeigt, dass das nicht so einfach ist und zu mehr Verwaltungsaufwand führen würde. Man könnte aber darüber nachdenken, diese Bewertung zum Beispiel nur alle fünf Jahre durchzuführen. Aktuell sehe ich allerdings keine politischen Mehrheiten in Bund und Ländern für eine Vermögenssteuer.

Ein Vorschlag, der in der Debatte vorkommt, ist, Einkommen anders zu besteuern. Die Union fordert zum Beispiel, dass der Spitzensteuersatz künftig erst ab 80.000 Euro greifen soll. Inwiefern ist das sinnvoll?

Bei einer solchen Grenze für den Spitzensteuersatz reden wir bei Arbeitnehmern von einem Bruttoeinkommen von etwa 90.000 oder 95.000 Euro, weil man ja die Sozialabgaben absetzen darf. Das sind nicht mittlere, sondern hohe Einkommen. Mit Blick auf all die Dinge, für die der Staat Geld braucht, denke ich nicht, dass man hier entlasten muss.

"Einfach für spürbare Entlastungen sorgen, ist nicht möglich."

Sebastian Dullien, Ökonom an der Hans-Böckler-Stiftung

Wo sehen Sie stattdessen Spielräume für Steuerentlastungen?

Wenn wir die Mittelschicht entlasten wollen, müssen wir an die Sozialabgaben rangehen. Das kann man machen, wenn die Zuschüsse des Bundes erhöht werden.

Klingt nach einem "aber".

Wahnsinnig viel Potenzial sehe ich da nicht. Eigentlich bräuchten wir pro Jahr Zukunftsinvestitionen von etwa 100 Milliarden Euro. Für die Verteidigung, für die Infrastruktur und so weiter. Heißt: Wenn die Bürger entlastet werden sollen, dann muss das Geld irgendwo anders herkommen.

Sie sehen also keinen Spielraum?

Wir sind in der Situation, dass man sagen muss: Einfach für spürbare Entlastungen sorgen, ist nicht möglich. Der Elefant im Raum ist diesbezüglich die Schuldenbremse.

Vereinfacht gesagt: Die Schuldenbremse sorgt aus Ihrer Sicht für eine Patt-Situation, die eine wirkliche Entlastung der Bevölkerung unmöglich macht?

Ja. Das wird auch die nächste Regierung betreffen, insofern sie die Schuldenbremse nicht reformiert. Ich sehe zum Beispiel nicht, wie die CDU die Einkommenssteuersenkungen umsetzen will, die sie angekündigt hat. Die Union will ein bisschen was beim Bürgergeld einsparen, aber das sind nicht die Größenordnungen, um die es wirklich geht. Den Plan von Friedrich Merz, wo er in Zukunft 100 Milliarden pro Jahr herbekommen will – den sehe ich noch nirgendwo.

Zur Person

  • Prof. Dr. Sebastian Dullien ist seit 2019 Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung innerhalb der Hans-Böckler-Stiftung. Der studierte Volkswirt war zuvor lange Jahre als Wirtschaftsredakteur aktiv. Seit 2007 ist er Professor für Allgemeine Volkswirtschaftslehre an Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin.
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