Außenminister Sigmar Gabriel hat eine Wende in der deutschen Außenpolitik gefordert. Die USA sähen Deutschland nicht mehr nur als Partner, sondern manchmal als Gegner. Deshalb müssten die Europäer ihr Schicksal wieder in die eigene Hand nehmen. Doch die Zusammenarbeit mit den USA lässt sich nur schwer durch andere Partnerschaften ersetzen.

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Die USA seien nicht länger gewillt, gleichberechtigte Partnerschaften zu garantieren, sagte Gabriel beim "Berlin Foreign Policy Forum", wo hochrangige Politiker und Experten diskutierten. Amerika nehme Deutschland immer weniger als Partner, sondern als Wettbewerber oder Gegner wahr. Deutschland müsse daher eigene Interessen definieren.

Wie als Bestätigung seiner Ausführungen sorgt nun der Vorstoß von Donald Trump in der Jerusalem-Frage weltweit für Aufregung. Die USA werden Jerusalem entgegen internationaler Gepflogenheiten als Hauptstadt Israels anerkennen. Der amerikanische Alleingang wirkt den Nahost-Friedensplänen nach deutscher und europäischer Vorstellung diametral entgegen.

Gabriels Erkenntnis komme spät, meint USA-Experte Dr. Josef Braml von der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik in Berlin: "Es ist nicht erst seit Donald Trump deutlich geworden, dass die USA zu schwach sind, um die liberale Weltordnung aufrecht zu erhalten."

Die wichtigsten Säulen der freien Welt – eine stabile Leitwährung, Sicherheit für Verbündete und den internationalen Freihandel – könne Amerika nicht mehr garantieren.

Schon unter Barack Obama seien die USA zu schwach für diese Aufgaben gewesen – "unter Trump sind sie noch stark genug, um das alles mutwillig zu zerstören und Konkurrenten wie China und Deutschland das Trittbrettfahren zu verwehren."

Wir bleiben noch lange von den USA abhängig

Deshalb, so Braml, werde sich Deutschland nicht nur im Handel auf härtere Zeiten einstellen müssen. Auch in sicherheitspolitischer Hinsicht werde es schwierig: "Wir bleiben in diesem Bereich noch mindestens für die nächsten 15 bis 20 Jahre absolut abhängig von den Amerikanern", sagt der Experte.

Genau darin sieht Dr. David Sirakov eine Chance. Der Direktor der Transatlantischen Akademie Rheinland-Pfalz plädiert dafür, Deutschland müsse mehr Verantwortung in sicherheitspolitischen Fragen übernehmen, ohne dabei die USA zu verprellen.

Er erinnert daran, dass eine gerechtere Lastenverteilung in der Verteidigungspolitik auch schon Robert Gates gefordert habe, der Verteidigungsminister unter Barack Obama war. "Deutschland muss aus der Komfortzone herauskommen", fordert Sirakov.

Ein verstärktes verteidigungspolitisches Engagement werde in außenpolitischen Zirkeln seit vielen Jahren diskutiert. Nun komme die Debatte, auch durch Sigmar Gabriels Thesen, in Politik und Gesellschaft an. Experte Josef Braml stimmt ihm zu: "Wir müssen auf jeden Fall mehr Geld in die Hand nehmen."

"Welche Rolle wollen Deutschland und Europa in Zukunft spielen?" – auch diese Frage müssten die Sicherheitspolitiker stellen, sagt David Sirakov. Nordafrika, der Nahe Osten, Russland und die Ukraine seien "europäische Probleme", die europäische Antworten forderten.

Doch auch er sieht die anhaltende Abhängigkeit von den USA und warnt vor übertriebenen Erwartungen: "Ohne Amerika können wir sicherheitspolitisch nicht agieren."

Gemeinsame Verteidigungspolitik und ein Marshallplan für Europa

Lösungsansätze sehen beide Experten in einer vertieften europäischen Einigung, wie sie der französische Präsident Emmanuel Macron fordert.

Zwar warnt Braml vor der Übernahme bisheriger Schulden – aber Initiativen für eine gemeinsam finanzierte Verteidigungspolitik kann er sich vorstellen. Und auch "einen Marshallplan für Europa, mit dem wir uns selbst helfen können."

Europäische Anleger müssten nicht unbedingt in den USA investieren: "Auch bei uns gäbe es viel zu tun."

Die Finanzen sieht Sirakov nicht als größtes Problem bei der Emanzipation von den USA. Er fragt sich vielmehr, wer neue Partner Deutschlands sein könnten. Selbst die bewährte deutsch-französische Freundschaft habe in der Vergangenheit unter heftigen Schwankungen gelitten.

Und Europa sei sich über seine zukünftige Entwicklung nicht einig. Die kleinen EU-Länder fürchteten, "dass die Großen alleine entscheiden", die liberalen Bürgerrechte gehörten zumindest in Polen und Ungarn nicht mehr zum gemeinsamen Wertekanon. Eine gemeinsame Politik ohne die USA sei da schwer durchzusetzen.

Gemeinsame Interessen, aber keine gemeinsamen Werte

Auch Sirakov warnt vor Illusionen: Schon innerhalb Europas sei die Suche nach neuen Partnern schwierig. Das Problem wachse, wenn man über die Grenzen schaue.

Mit China könnten Deutschland und die EU möglicherweise über Klimapolitik reden, mit Russland über Energiefragen. Doch wenn es um gemeinsame Werte gehe, "dann fallen beide sofort raus."

Also nur über gemeinsame Interessen, nicht über Werte reden? Beides müsse versucht werden, und genau dies werde "der spannendste Teil" der Kooperationen mit neuen Partnern, vermutet Sirakov.

Trotz aller Probleme plädiert er daher dafür, die USA nicht aus dem Blick zu verlieren. Er hofft auf Entwicklungen in den USA: Trumps Ausstieg aus dem Klimaschutz etwa haben amerikanischen Städte und auch Bundesstaaten mit eigenen Klimainitiativen beantwortet.

Sirakov spricht von einer "Resistance-Bewegung", deren Bemühungen sich möglicherweise in den nächsten Zwischenwahlen niederschlagen könnten.

Er verweist außerdem darauf, dass die beiden Staaten schon viele Schwierigkeiten überstanden hätten: "Es gab auch unter George W. Bush eine große Wertedebatte", erinnert er, "als es um Folter ging und um das Gefangenenlager in Guantanamo." Auch diese Krise sei vorübergegangen: "Als Obama gewählt wurde, war das Misstrauen mit einem Schlag wie weggewischt."

Als sicher darf gelten, dass Sigmar Gabriels Rede noch längere Zeit für Gesprächsstoff sorgen wird.

Kritiker empfanden seine Anmerkungen zur europäischen Sicherheitspolitik als widersprüchlich, die NATO habe er in seiner Rede nicht einmal erwähnt.

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