Die SPD kämpft weiter mit sich und ihrer künftigen Rolle in der Bundesrepublik. Angesichts des Vorstoßes von Grünen-Co-Chef Robert Habeck und katastrophaler Umfragen sind die Sozialdemokraten unter Zugzwang. Nun geht die Parteivorsitzende Andrea Nahles in der Dauer-Diskussion um Hartz IV in die Offensive.
Wenn in dieser so unruhigen Zeit auf eines noch Verlass ist bei der SPD, dann auf das wiederkehrende Gespenst mit Namen Hartz IV. Kurz nach dem Start der großen Koalition gab es im März eine hitzige Hartz-Debatte - und nun, die SPD ist auf 14 Prozent abgestürzt, ist das Thema wieder da. Und die Parteichefin Andrea Nahles stellt sich an die Spitze der "Hartz-IV-muss-weg"-Bewegung.
Bis heute leiden die Sozialdemokraten an der Reform, die die Kanzlerschaft von
SPD-Chefin bleibt bei Reformplänen vage
Es gibt wohl kaum eine Partei, die so intensiv nach den Themen der Zukunft sucht. Und dabei oft in der Vergangenheit landet. In 8839 Zeichen hat Nahles nun am Wochenende in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über "eine große Sozialstaatsreform - und was nach Hartz IV kommen muss" geschrieben. Doch was kommen muss, bleibt noch vage - aber dieses Mal soll die Debatte nicht ergebnislos verpuffen. Die wackelnde Vorsitzende muss liefern - und Streit kann belebend wirken.
Arbeit soll sich wieder lohnen
"Wir müssen Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren", schreibt sie - und mit höheren Mindestlöhnen, Steuerrabatten und Zuschüssen zu den Sozialabgaben dafür sorgen, dass mehr netto bleibt, dass also viel weniger Bürger auf Grundsicherung angewiesen sind. Gerade die zwei Millionen Kinder auf Hartz-IV-Niveau sind ihr ein ernstes Anliegen - sie sollen eine eigene Kindergrundsicherung bekommen. Und für den Rest - derzeit bekommen rund sechs Millionen Menschen Hartz-IV-Leistungen (Regelsatz: 416 Euro im Monat) - will sie eine "auskömmliche Leistung" mit weniger Sanktionsdrohungen.
"Es sind oft gar nicht die Leistungen, die für Verdruss sorgen, sondern die erfahrenen Demütigungen und Stigmatisierungen." Nahles will auch weit mehr Wohngeld, um zu verhindern, "dass Menschen angesichts explodierender Mieten in die Grundsicherung getrieben werden". Zudem deutet sie wie vor Hartz IV einen längeren Bezug von Arbeitslosengeld I an, damit langjährige Einzahler in das System nicht wie bisher nach ein paar Monaten auf Hartz-IV-Niveau fallen. Unterm Strich bedeutet ihr Vorschlag vor allem: Viel mehr Geld. Man soll nicht unter das Existenzminimum fallen, Vermögensanrechnung und Zuverdienstgrenzen etwa bei Minijobs könnten großzügiger ausfallen.
Unbestritten ist, dass die von der rot-grünen Koalition vor 15 Jahren auf den Weg gebrachte Agenda 2010 mitverantwortlich ist für die heute weit bessere Arbeitsmarktlage. Die Vorschläge basierten auf den Ideen einer Kommission unter Leitung des früheren VW-Managers Peter Hartz. Es ging um mehr Flexibilität - aber auch um eine Ausweitung des Niedriglohnsektors und von Leiharbeit. Viele wurden zu Verlierern, fühlen ihre Arbeit nicht mehr wertgeschätzt. Und um Geld zu sparen, wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt zu "Hartz IV".
Mitte anvisieren oder links abbiegen?
Ist das Ganze heute mitverantwortlich dafür, dass viele Bürger sich immer stärker abgehängt fühlen und sich der AfD und anderen Alternativen zuwenden? Vizekanzler
Nun will Nahles Hartz IV überwinden. Nicht wenige fordern, scharf nach links abzubiegen. Interessant ist, dass der Höhenflug der Grünen - 23 Prozent in einer ARD-Umfrage, nur noch knapp hinter CDU/CSU (26) - mit einem Mitte-Kurs geschieht. Schröders Mantra, das Scholz sofort unterschreiben würde, lautete: "Wahlen werden in der Mitte gewonnen."
Während sich die CDU mit dem offenen Kandidatenrennen um die Nachfolge von Parteichefin Angela Merkel einen Frühling erhofft, wird bei der SPD über Nahles, die ihren Vorsitz einer Absprache im kleinen Kreis verdankt, und Scholz zunehmend kritisch gesprochen. Etwas böse Spitznamen lauten: "Pippi Langstrumpf und der Mann von der Hamburg-Mannheimer".
Grüne setzen SPD unter Zugzwang
Selbst aus Schröders Umfeld heißt es zur Hartz-IV-Debatte: "Das ist nicht alles in Stein gemeißelt." Aber Sorge bereitet vielen das zum Teil plan- und kopflose Agieren. Nahles schlägt als neuen Begriff "Bürgergeld" vor. Doch den Begriff "Bürgergeld" hat schon die FDP für ihr Konzept vor längerer Zeit gekapert. Und das Konzept zielt anders als bei Nahles auf deutlich weniger unterschiedliche Sozialleistungen ab. Dabei sollen alle steuerfinanzierten Sozialleistungen in einer Komplettleistung und an einer staatlichen Stelle gebündelt werden.
Bisher nutzt der SPD das Verteilen von immer mehr Milliarden, auch beim Thema Rente, in der Wählergunst wenig. Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück meinte jüngst, die SPD werde nur noch als "Krankenwagen der Gesellschaft erlebt, der hier mal einen Rohrbruch abdichtet, mal eine Schraube anzieht und dafür sorgt, dass der Mindestlohn um einen Euro steigt". Der Sozialstaat ist wegen des demografischen Wandels aber längst an der Grenze. Und die Krisensignale verdichten sich.
Nahles' Ausführungen sind aber auch eine Antwort auf Grünen-Chef Robert Habeck - die SPD sieht mit Sorge, wie die Grünen versuchen, sich nun auch in der Sozialpolitik stärker zu profilieren. Aber Habecks zuvor vorgelegtes Konzept einer "Garantiesicherung" ohne Zwang, sich um neue Arbeit zu bemühen, dürfte noch teurer sein.
Das große Dilemma der SPD ist es, dass sie zwar debattieren, aber politisch sich vorerst nicht von ihrem Gespenst verabschieden kann. In der großen Koalition wird an dieser Stelle kaum etwas zu machen sein. Denn Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sagt klipp und klar: "Wir dürfen und werden Hartz IV nicht abschaffen." (mc/dpa)
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