Im Streit um die Kindergrundsicherung gerät Familienministerin Lisa Paus (Grüne) immer mehr unter Druck. Hat das Herzensprojekt der Grünen überhaupt noch eine Chance oder scheitert es an einer Blockade der FDP? Für Wirbel sorgten zuletzt 5.000 geforderte Stellen, doch der Koalitionspartner FDP äußert noch grundlegendere Kritik. Antje Funcke, Expertin für Familienpolitik, gibt eine Einschätzung ab, wie die Chancen stehen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Sie sollte ein soziales Prestigeprojekt der Grünen sein, doch nun droht die Kindergrundsicherung immer mehr zum Desaster zu werden. Dass sie, wie geplant und angekündigt, zum 1. Januar 2025 an den Start geht, wird Beobachtern zufolge immer unwahrscheinlicher.

Mehr aktuelle News

Obwohl das Bundeskabinett im September 2023 einen Gesetzentwurf verabschiedet hatte, streitet die Ampel nun wieder ganz grundsätzlich über die Sozialreform. Allen voran kritisiert die FDP das Projekt als zu teuer und zu bürokratisch. Sie fordert sogar eine völlige Überarbeitung.

Kritik an "halbfertigem Konzept"

Der Generalsekretär der Liberalen, Bijan Djir-Sarai, sprach von einem "halbfertigem Konzept", das kein einziges Kind aus der Armut bringen werde. Es müsse mehr auf Eigenverantwortung gesetzt und Eltern aus der Arbeitslosigkeit geholt werden. Die Oppositionsparteien der Union hatten zuletzt sogar einen Rücktritt von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) gefordert.

Mit der Kindergrundsicherung soll strukturelle Kinderarmut in Deutschland bekämpft werden. Obwohl Deutschland zu einer der reichsten Industrienationen der Welt zählt, ist rund jedes fünfte Kind von Armut bedroht. Arme Kinder haben noch immer eine deutlich höhere Chance, zu armen Erwachsenen heranzuwachsen. Ebenso stehen sie schlechter in Sachen Bildung und Gesundheit da.

Geschrumpft auf 2,4 Milliarden

Damit sich das ändert, will die Ampel bisherige Leistungen in Form von Kindergeld, Kinderfreibetrag, Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch oder dem Bildungs- und Teilhabepaket bündeln, und so Familien besser erreichen. Dafür soll ihnen ein fixer Grundbetrag, mindestens in Höhe des jetzigen Kindergeldes zustehen, je nach Einkommenssituation kommt ein Zusatzbetrag obendrauf.

Ursprünglich hatte Paus für ihr Herzensprojekt zwölf Milliarden Euro gefordert, die Einigung sah zuletzt 2,4 Milliarden Euro vor, die zusätzlich zu den bisherigen Leistungen erbracht werden sollen. Nach Schätzungen von Familienministerin Paus (Grüne) dürften die Kosten bis 2028 auf sechs Milliarden Euro steigen.

Muss für die Kindergrundsicherung eine Verwaltungsreform stattfinden?

Paus zeigt sich weiterhin zuversichtlich, dass die Kindergrundsicherung kommt, doch die Expertin für Familienpolitik Antje Funcke von der Bertelsmann Stiftung ist skeptisch. "Die Diskussionen, die im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens und in der Koalition stattfinden, bekommt man natürlich von außen nicht vollständig mit. Der Eindruck, der aber bisweilen entstanden ist: Es sieht nicht wirklich rosig aus", sagt die Expertin.

Es werde sehr stark infrage gestellt, ob für die Kindergrundsicherung eine Verwaltungsreform stattfinden müsse und ob eine neue Kindergrundsicherungsstelle aufgemacht werden müsse. "Das lässt befürchten, dass die Kindergrundsicherung nicht mehr kommt", sagt Funcke. Dabei bleibe das, was nun im Gesetzentwurf stehe, ohnehin weit hinter den ursprünglichen Forderungen zurück.

Wirbel um 5.000 neue Stellen

"Es wäre wünschenswert gewesen, wenn man an die Höhe der Leistungen noch einmal neu herangegangen wäre. Das, was wir Kindern und Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, heute gewähren, reicht nicht aus, um ihnen wirklich Teilhabe und ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen", sagt Funcke.

Aufhänger für den neusten Streit war die Zahl von 5.000 neuen Stellen. Diese hatte die Bundesagentur für Arbeit für die geplante Stelle geschätzt, die bei der Bundesagentur für Arbeit angesiedelt sein soll. Diese kümmert sich bereits jetzt um die Auszahlung des Kindergeldes, soll aber in Zukunft Anlaufstelle für alle Kinderleistungen sein und beispielsweise auch auf Daten von Berufs- und Hochschulen zugreifen können.

Hoher Beratungsaufwand

Über ein neues Portal sollen online Leistungen beantragt werden können, für die dann beispielsweise auch keine Einkommensnachweise mehr nötig sind – weil Informationen direkt vom Finanzamt an die Kindergrundsicherungsstelle weitergegeben werden.

Derzeit machen bis zu 70 Prozent der Familien Ansprüche für Leistungen nicht geltend. Die Grünen wollen die "Holschuld" der Familien in eine "Bringschuld" des Staates kehren. Doch das kostet Verwaltungsaufwand. "Die Verwaltungswege sind derzeit viel zu komplex und aufwendig", sagt Expertin Funcke. Es sei aber aus ihrer Sicht einleuchtend, zunächst Verwaltung aufzubauen, da Familien in schwierigen Lebenssituationen einen hohen Beratungsbedarf hätten und auch viel mehr Kinder die Kindergrundsicherung in Anspruch nehmen sollen.

Bürokratieabbau gefordert

Für die geschätzten 5.000 Stellen hagelte es jedoch jede Menge Kritik. Paus ruderte daraufhin zurück: Die Zahl sei überholt und lediglich eine Prognose gewesen. Aufgrund von "Synergie- und Digitalisierungseffekten" sei es sehr wahrscheinlich, mit weniger Personal auszukommen, so Paus zur Deutschen-Presse-Agentur.

Der FDP, die besonders auf Bürokratieabbau und einen schlanken Staat pocht, ist das trotzdem ein Dorn im Auge. Sie hält den aktuellen Gesetzentwurf nicht für zustimmungsfähig. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Parlament vor Lisa Paus‘ Zeitplan oder ihren wirren Forderungen buckelt", sagte der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Christoph Meyer der Deutschen Presse-Agentur.

Normenkontrollrat hat Bedenken

Aus Sicht von Paus hingegen sind alle Sachfragen geklärt, ihr Ministerium habe die fachlichen Voraussetzungen geschaffen. Was noch fehle, sei der politische Wille, es umzusetzen. Allerdings hatte auch die Bundesagentur für Arbeit bereits Zweifel angemeldet. Die Behörde hatte angekündigt, ab Verabschiedung des Gesetzes mindestens ein Jahr für die Umsetzung zu brauchen. Die Bundesregierung wollte daraufhin den Zeitplan der Kindergrundsicherung überprüfen.

Bedenken kamen zuletzt auch vom Normenkontrollrat, der die Bundesregierung als unabhängiges Gremium in Sachen Bürokratieabbau berät. Chef Lutz Goebel äußerte gegenüber dem "Handelsblatt": "Die Bundesregierung darf das Potenzial für Vereinfachung und Bürokratieabbau bei ihren Plänen der Kindergrundsicherung nicht aus dem Blick verlieren."

"Wenn die Kindergrundsicherung nicht kommt, sind die Kinder und Jugendlichen die Leidtragenden. Sie haben durch die Armut ihrer Eltern deutliche Beeinträchtigungen in allen Bereichen ihres Lebens", warnt Expertin Funcke. Aus ihrer Sicht wäre es fatal, wenn nicht mindestens ein Einstieg in eine neue Politik gelinge. "Unser bisheriges System funktioniert nicht, die Kinderarmut ist in Deutschland auf einem vergleichsweise hohen Niveau", erinnert sie.

Expertin ist betroffen von "abwertender Diskussion"

"Das, was jetzt vorgelegt worden ist, kann zumindest ein Einstieg in einen Systemwechsel sein – wenn Investitionen in den kommenden Jahren folgen", sagt Funcke. Sie sei betroffen von der abwertenden Diskussion, die über in Armut lebende Familien geführt werde. "Dabei erkennt man immer wieder fehlendes Vertrauen in die Familien. Es wird ihnen abgesprochen, das Beste für ihre Kinder zu wollen und das Geld auch für ihre Kinder auszugeben. Das belegen aber mehrere Studien", merkt sie an.

Funcke ist sich sicher: Die abwertende Diskussion ist eine der Hauptursachen, wenn die Kindergrundsicherung nicht kommt. "Wir leben in Zeiten, wo es schwierig ist, finanzielle Mittel für so ein Projekt in die Hand zu nehmen. Die haushaltspolitischen Begrenzungen sind da, aber man muss Prioritäten setzen und sich überlegen, was elementar für unsere Gesellschaft ist", sagt sie.

Über die Gesprächspartnerin:

  • Antje Funcke ist "Senior Expert Familie und Bildung" bei der Bertelsmann Stiftung. Sie hat Volkswirtschaft an der Philipps-Universität Marburg studiert.

Verwendete Quellen:

Lisa Paus

Paus gibt Fehler in der Debatte um Kindergrundsicherung zu

Lisa Paus hat in der Kommunikation zum Thema Kindergrundsicherung Fehler eingeräumt. Die Bundesfamilienministerin bezog sich dabei auf die 5.000 neuen Behördenstellen, die sie in der Vergangenheit als notwendig genannt hatte. (Photocredit: Getty Images)
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.