Eine Woche nach dem Anschlag auf das Pariser Satiremagazin "Charlie Hebdo" führen Polizisten in Frankreich, Deutschland und Belgien Razzia um Razzia durch. Belgien steht dabei im Mittelpunkt der Ermittlungen gegen Islamisten.

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Ausgerechnet ein Kleinstädtchen in Belgien scheint Dreh- und Angelpunkt der europäischen Islamistenszene zu sein. Bei einer Razzia in einer Wohnung im ostbelgischen Verviers wurden am Donnerstagabend zwei Terrorverdächtige erschossen und ein weiterer festgenommen - und die Polizei bleibt alarmiert. Bis spät in die Nacht hatte die landesweite Operation gedauert, bei der insgesamt zwölf Häuser durchsucht und dreizehn Personen in Polizeigewahrsam genommen wurden.

Der Einsatz stehe in keinem Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Pariser Satiremagazin "Charlie Hebdo" vor einer Woche, betont der belgische Staatsanwalt Eric Van Der Sypt. Vielmehr seien die Verdächtigen schon länger unter Beobachtung gestanden. Über Alter, Identität und Nationalität der Verdächtigen schweigt er sich aus - "um laufende Ermittlungen nicht zu gefährden". Einige von ihnen seien Heimkehrer aus Syrien, die seit ihrer Rückkehr observiert wurden. Sie sollen einer "operativen Zelle von Dschihadisten" angehören.

Angst vor Schläfern ist groß

"Die Gruppe stand kurz davor, einen Anschlag zu verüben", erklärt der Staatsanwalt in einer Pressekonferenz am Vormittag. Ihr Ziel sei es gewesen, "Polizisten auf Streife oder in Wachen zu töten." So fanden die Ermittler in der Wohnung der beiden Männer ein regelrechtes Kriegsarsenal. Neben vier Kalaschnikows vom Typ AK47 hatten die Männer vier Handschusswaffen, Munition und Sprengstoff versteckt. Neben Funkgeräten wurden in der Wohnung in der Rue de la Colinne auch Polizeiuniformen und falsche Papiere sowie große Mengen Bargeld gefunden.

Bei Durchsuchungen in der vergangenen Nacht im Großraum Brüssel stießen die Beamten ebenfalls auf Waffen, Sprengstoff, gefälschte Ausweise und größere Mengen Bargeld. Zeitgleich drangen Sicherheitskräfte in Wohnungen in Sint-Agatha-Bechem sowie Liedekerke ein. Innenminister Jan Jambon lobte die "ausgezeichnete Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste", die "adäquat reagiert" hätten. Durch ihre Arbeit seien "ein paar Syrienkämpfer ausgeschaltet worden." Diesen Weg müsse man weitergehen.

Zwar scheint die unmittelbare Gefahr vorerst gebannt, dennoch hält die Regierung von Charles Michel an Terrorwarnstufe drei fest. Die Befürchtung: Die Razzia vom Donnerstag könnte Schläfer wachrütteln. Innenminister Jambon teilt Michels Besorgnis: Die Operation könne "weitere Zellen aktivieren".

Eine Kleinstadt als Terroristen-Hotspot

Seine Sorge scheint begründet: Aus keinem anderen europäischen Land kommen im Verhältnis zur Bevölkerung derart viele Kämpfer, die die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien und dem Irak unterstützen. Ein amerikanischer Thinktank geht von etwa 650 jungen Männern aus Belgien aus, die sich dem IS angeschlossen haben. Mehr als 100 von ihnen sollen inzwischen zurückgekehrt sein.

Verviers, eine Kleinstadt mit etwa 55.000 Einwohnern, gilt als Hotspot der Islamistenszene. Zu der Terrorzelle, deren Quartier die Polizei am Donnerstag stürmte, sollen insgesamt zehn Personen gehören. Einige halten sie sich offenbar noch in Syrien auf.

Eine erhöhte Terrorgefahr wies das belgische Krisenzentrum auf Anfrage jedoch zurück: "Es gibt keine unmittelbare Bedrohung für unser Land", sagt ein Sprecher der Organisation. Die am Donnerstag ausgerufene Terrorwarnstufe drei sei eine "Vorsichtsmaßnahme", deren Aufrechterhaltung man von Tag zu Tag evaluieren werde.

"Gefährlichste Bedrohungslage seit zehn Jahren"

Nur eine Woche nach dem Anschlag auf die Redaktion des Pariser Satiremagazins "Charlie Hebdo" arbeiten Europas Sicherheitsdienste auf Hochtouren. In Brüssel gelten verschärfte Sicherheitsvorkehrungen. Terrorexperten wie Peter Neumann vom Londoner King’s College sprechen von der "gefährlichsten Bedrohungslage seit zehn Jahren". Mit der Propaganda des IS, der seine Gefolgsleute massiv über Internetforen und Videos rekrutiert, ist Al-Kaida in den Hintergrund gerückt. Teilweise sind deren Mitglieder bereits zum IS übergelaufen. Neumann befürchtet, dass Al-Kaida durch neue Anschläge im Westen den IS zu übertrumpfen versuchen könnte.

Verviers liegt nur 35 Kilometer von der deutschen Grenzstadt Aachen entfernt. Bundesinnenminister Thomas de Maizière sprach bereits nach den Pariser Anschlägen von einem "Grund zur Sorge", aber nicht zur "Angst oder Panik". Dabei haben längst auch die deutschen Geheimdienste mehrere Tatverdächtige im Blick. Bei Razzien in Wolfsburg, Pforzheim und zuletzt in Berlin fand die Polizei unter anderem Spezialausrüstung wie Nachtsichtgeräte.

In Frankreich läuft unterdessen die Suche nach den Helfern der Attentäter von "Charlie Hebdo" und der Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt im Osten von Paris. Mehrere Verdächtige wurden festgenommen, darunter auch zwei Belgier. Ihr Heimatland fordert nun ihre Auslieferung.

Nur wenige Tage zuvor war bekannt geworden, dass ein Waffenhändler aus Belgien dem Pariser Geiselnehmer Amedy Coulibaly eine Waffe verkauf hatte. Brüssel gilt längst als das europäische Drehkreuz für Waffenhandel. Im Stadtteil Anderlecht, unmittelbar hinter dem Bahnhof Brüssel-Midi, sind Kalaschnikows, wie sie am Donnerstag in der Wohnung der Ruhe de la Colinne beschlagnahmt wurden, jederzeit zu haben.

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