Thomas de Maizière war unter Kanzlerin Angela Merkel Bundesinnenminister auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise von 2015. Nun kritisiert er organisatorische und logistische Defizite in der damaligen Situation. Zudem greift er seinen Amtsnachfolger Horst Seehofer an. Der reagiert nun.

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Die frühere Bundesregierung hat sich nach Überzeugung des damaligen Innenministers Thomas de Maizière (CDU) im Jahr 2015 nicht gut genug auf die große Anzahl von Flüchtlingen eingestellt.

"Im Nachhinein wird man sagen, die Vorbereitung war insgesamt nicht gut genug", sagte der CDU-Politiker am Montag in der "Bild"-Sendung "Die richtigen Fragen".

Von Stimmungen leiten und mitreißen lassen

"Wir haben uns alle – auch die Medien, die Politik – von Stimmungen leiten lassen", fügte de Maizière hinzu.

Im September 2015, "als die Menschen an den Bahnhöfen gestanden und geklatscht haben, da waren alle Flüchtlinge Heilige". Nach der Silvesternacht mit den Übergriffen in Köln "waren alle Flüchtlinge Vergewaltiger". Insgesamt hätten sich "alle zu sehr mitreißen lassen".

Die Flüchtlingskrise sei aber kein Trauma der CDU, betonte der frühere Bundesinnenminister. Die am Montag fortgesetzten "Werkstattgespräche" der Partei seien gut und nützen der neuen Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer. "Sie ist freier als die bisherige Parteivorsitzende Angela Merkel, die im Zentrum der Entscheidung war."

Mit den am Sonntag begonnenen Werkstattgesprächen will die Union die Flüchtlingskrise aufarbeiten, wegen der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) seinerzeit stark unter Druck geraten war. Die Union berät auch über Konsequenzen aus den damaligen Vorgängen.

Soeben erst hatte Thomas de Maizière sein Buch "Regieren" vorgestellt und darin ebenfalls auf die Flüchtlingskrise und die politische Reaktion zurückgeblickt. Dabei erklärt er auch, warum er sich im September 2015 gegen die Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze zu Österreich entschieden hat.

De Maizière kritisiert Seehofer - der reagiert

Viele von ihnen kamen damals ohne Papiere. Den unter anderem von seinem Nachfolger, Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), geäußerten Vorwurf, die offenen Grenzen stellten eine "Herrschaft des Unrechts" dar, bezeichnet er als "ehrabschneidend".

Zudem verweist de Maizière in seinem Buch darauf, dass "die kommunalpolitisch Verantwortlichen vor Ort in Bayern" eine Registrierung im Grenzgebiet abgelehnt hätte. Vielmehr sei darauf bestanden worden, "dass die Flüchtlinge ohne Registrierung, die in jedem Einzelfall 30 bis 45 Minuten dauert, sofort weiterverteilt werden".

Indirekt attackiert der ehemalige Innenminister auch Seehofers Agieren im Streit um den inzwischen abgesetzten Präsidenten des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen.

"Die Verwendung eines noch so wichtigen Behördenleiters sollte nicht die ganze Regierung oder Koalition beschäftigen. Andernfalls schwächt das den Minister gegenüber seinen Kollegen und weckt nur Begehrlichkeiten, auch künftig bei unliebsamen Personalentscheidungen in andere Ressorts hineinzuregieren."

Gegenüber der "Augsburger Allgemeine" (Dienstag) hat sich Horst Seehofer zu den Ausführungen seines Amtsvorgängers zur Flüchtlingskrise 2015 zu Wort gemeldet. Wie er der Zeitung mitteilte, kenne er das Buch zwar nicht im Original, Die Darstellung von de Maizière, so wie sie in Medien verbreitet werde, sei aber "objektiv falsch".

Wie er weiterhin anmerkte, gehöre es "zum guten Stil, dass ein amtierender Minister nicht die Politik seines Vorgängers öffentlich bewertet." Das Umgekehrte sei "aber auch ratsam".

De Maizière fürchtete negative Reaktionen

De Maizière und andere Gegner des von der Bundespolizei erarbeiteten Plans für Zurückweisungen an der Grenze fürchteten damals wohl auch negative Reaktionen der Bevölkerung, falls es an der Grenze zu unschönen Szenen kommen sollte.

De Maizière führt in seinem Buch aus: "Eine konsequente Zurückweisung wäre zudem nur möglich gewesen unter Inkaufnahme von sehr hässlichen Bildern, wie Polizisten Flüchtlinge, darunter Frauen und Kinder mit Schutzschilden und Gummiknüppeln am Übertreten der Grenze nach Deutschland hindern."

Er betont: "Es gab mitnichten eine Entscheidung zu einer Grenzöffnung durch die Bundeskanzlerin". Die Grenzen seien ja schon offen gewesen. Entschieden hat er selbst, zumindest formal.

Bundespolizeichef Dieter Romann hielt damals dagegen. Der inzwischen geschasste Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen äußerte angesichts fehlender Identitätsprüfungen Sicherheitsbedenken.

Beide erwähnt de Maizière nicht namentlich - den Dissens, den er mit ihnen hatte, thematisiert er schon. "Eine Zurückweisung hätte nur funktioniert, wenn anschließend Österreich und die anderen Staaten auf der Balkanroute sofort oder wenigstens innerhalb von wenigen Tagen genauso entscheiden würden. Darauf setzte die Führung der Bundespolizei. Aber nichts davon war abgestimmt, vorbereitet oder sicher."

Im September 2015 registrierten die deutschen Behörden die Einreise von 163.772 Asylsuchenden. Im Oktober überquerten dann mindestens rund 181.000 die Grenze. Nur ein kleiner Teil verließ Deutschland später, um in Länder wie Schweden oder Dänemark weiterzureisen. (mwo/thp/dpa/AFP)

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