Wer einen ärztlichen Behandlungsfehler nachweisen will, hat es in Deutschland oft schwer. Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze, findet die aktuelle Regelung ungerecht – und dringt auf eine Änderung des Patientenrechtegesetzes.
Das Gesundheitswesen ist ein Terrain mächtiger Lobbyverbände: Sie vertreten Krankenkassen, Ärztinnen und Ärzte, die Pharmaindustrie und andere Akteure. Wer aber kümmert sich um die Anliegen der Patientinnen und Patienten?
Seit 2004 ist das unter anderem die Aufgabe eines Beauftragten der Bundesregierung. Er soll die Interessen der Patientinnen und Patienten in der Politik vertreten. Gesetzesänderungen, die ihre Rechte berühren, sind ihm vorzulegen.
Anfang 2022 hat der SPD-Politiker Stefan Schwartze das Amt übernommen. Im Interview spricht er über seine Forderung nach einer Novelle des Patientenrechtegesetzes – und ein alltägliches Ärgernis für viele Menschen.
Herr Schwartze, wann haben Sie zuletzt lange auf einen Arzttermin gewartet?
Stefan Schwartze: Ich hatte im vergangenen Jahr selbst ein dringendes orthopädisches Problem. Da habe ich 15 orthopädische Praxen abtelefoniert, um einen Termin in der gleichen Woche zu bekommen. Erst bei Nummer 15 hat es geklappt. Solche und ähnliche Erfahrungen machen viele Menschen, sowohl im ländlichen Raum als auch in den Großstädten.
Die langen Wartezeiten untergraben das Vertrauen vieler Menschen ins Gesundheitssystem. Was unternimmt die Bundesregierung dagegen?
Ich bin froh, dass die Entbudgetierung für die Haus- und Kinderarztpraxen kommt. Ärztinnen und Ärzte werden damit mehr Patientinnen und Patienten annehmen können, ihre Praxen vergrößern und die Versorgung verbessern. Außerdem haben wir Geld bereitgestellt für die Vermittlung von Facharztterminen durch Hausärzte und Hausärztinnen.
Entbudgetierung
- Bis jetzt gibt es eine Obergrenze für die Behandlungen, die Mediziner mit der Krankenkasse abrechnen können: das sogenannte Budget.
- Diesen Preisdeckel will die Bundesregierung jetzt für die Haus- und Kinderärzte abschaffen – und so finanzielle Anreize für mehr Termine geben.
Das Kabinett hat das Gesetz im Mai auf den Weg gebracht – aber es ist noch nicht umgesetzt.
Ich hoffe, dass wir das jetzt möglichst schnell durch den Bundestag bekommen, um die Versorgungssituation zu verbessern. Grundsätzlich brauchen wir aber auch genügend Ärztinnen und Ärzte, die bestehende Praxen übernehmen oder neue eröffnen. Dafür müssen sich langfristig die Arbeitsbedingungen ändern.
Und wie?
Arztpraxen müssen von bürokratischen Aufgaben entlastet werden. Ich habe mir das bei der Kassenärztlichen Vereinigung angesehen. Dort wird Personal ausgebildet, das Verwaltungsaufgaben für Ärztinnen und Ärzte erledigt. Das ist ein wichtiger Ansatz.
Sie haben als Patientenbeauftragter auch mit Menschen zu tun, die eine Entschädigung für einen ärztlichen Behandlungsfehler bekommen wollen. In Deutschland gelten solche Fehler aber als schwer nachzuweisen. Woran liegt das?
Patientinnen und Patienten müssen vor Gericht grundsätzlich belegen, dass ihr gesundheitliches Problem allein auf den Behandlungsfehler zurückzuführen ist – und nicht auf eventuelle Vorerkrankungen oder Ähnliches. Gerade angesichts der komplexen Vorgänge im Körper können nicht immer alle Restzweifel beseitigt werden – oder es fehlen wichtige Unterlagen der Behandlung. Wenn dann dieser Beweis nicht gelingt, gibt es kein Recht auf Entschädigung. Trotz festgestelltem Behandlungsfehler verliert der Patient. Aus meiner Sicht müssen wir das Thema in Angriff nehmen. Es ist gut, dass wir ein Patientenrechtegesetz haben, aber es ist inzwischen elf Jahre alt. Es muss uns gelingen, Patientinnen und Patienten mehr auf Augenhöhe zu bringen.
Die Ampelkoalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag Ende 2021 vorgenommen, die Patientenrechte zu stärken. Passiert ist das bisher aber nicht. Warum?
Federführend ist in dem Bereich das Justizministerium, weil es um das Bürgerliche Gesetzbuch geht. Ich teile die Ungeduld, weil wir wirklich an vielen Stellen Handlungsbedarf haben, um die Rechte von Patientinnen und Patienten zu verbessern. Natürlich ist es nicht ganz einfach. Wir brauchen bei dem Thema eine komplett andere Denkweise.
Inwiefern?
Bisher ist die Situation häufig so: Ein Patient weiß, es hat einen Behandlungsfehler gegeben. Weil er auch eine Vorerkrankung hat, urteilt ein Gericht aber, dass ihm keine Entschädigung zusteht. Das versteht kein Mensch, und das ist ungerecht. Wir brauchen eine Senkung des Beweismaßes. Um Recht zu bekommen, sollte es zukünftig nur noch "überwiegend wahrscheinlich" sein müssen, dass ein Behandlungsfehler zu dem Schaden geführt hat.
Wie müsste eine Novelle des Patientenrechtegesetzes außerdem aussehen?
Wir brauchen bessere Einsichtsrechte für die Patientinnen und Patienten. Man hat schon heute den Anspruch, seine Patientenakte zu bekommen. Häufig ist das aber ein Riesenaufwand. Auch andere Unterlagen können weiterhelfen, zum Beispiel Dienstpläne, Hygienepläne oder Unterlagen zur Wartung der technischen Anlagen. Allerdings müssen wir auch über das Organisationshaftungsrecht reden.
Was bedeutet das?
Behandlungsfehler beruhen nicht immer auf individuellen Fehlern der Menschen im Gesundheitswesen. Manche Fehler werden auch durch Strukturen verursacht: durch völlige Überlastung des Personals oder durch schlechte Organisation. In solchen Fällen sollte nicht eine Person haften müssen, sondern zum Beispiel die Klinik.
Das Gesundheitswesen ächzt jetzt schon unter zu viel Bürokratie. Würde es nicht noch mehr Bürokratie verursachen, wenn Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte das alles besser nachweisen müssen?
Ich sehe alle Beteiligten in der Pflicht, ihre Abläufe zu überprüfen. Das wäre ein großer Schritt für die Patientensicherheit. Ich trete auf jeden Fall ein für ein Register der schlimmsten Ausnahmefehler, die niemals vorkommen dürften. Zum Beispiel wenn eine Operation am falschen Patienten oder am falschen Bein vorgenommen wird. Davon gibt es etwa eine zweistellige Zahl im Jahr – der bürokratische Aufwand wäre also überschaubar. Wir können mit Hilfe dieses Registers lernen, wie solche Ausnahmefehler zu vermeiden sind.
Das vielleicht größte Projekt von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist eine Krankenhausreform. Sie soll dafür sorgen, dass sich Kliniken stärker spezialisieren – und dadurch bessere Behandlungen anbieten. Kann das auch die Zahl der Behandlungsfehler verringern?
Ich setze sehr darauf, dass die Krankenhausreform eine bessere Qualität des Gesundheitswesens bewirkt. Nehmen Sie das Beispiel Frankreich und die Herzinfarktpatienten: Deutschland hat deutlich mehr Krankenhausbetten als Frankreich. Trotzdem ist die Gefahr, an einem Herzinfarkt zu versterben, bei uns doppelt so hoch wie in Frankreich. Bei einem Herzinfarkt ist es wichtig, in ein spezielles Zentrum mit der nötigen Erfahrung und Ausrüstung zu kommen. Das wird nicht bei jedem Krankenhaus um die Ecke vorgehalten.
Viele Menschen befürchten aber, dass das Krankenhaus um die Ecke dann schließen muss – dabei wäre es für andere Fälle wichtig.
Eine grundlegende Krankenhausversorgung muss für die Menschen immer erreichbar sein. Die Wege dürfen selbstverständlich nicht zu lang werden. Aber das ist eben immer eine Abwägung. Herzinfarkte, Traumata, Schlaganfälle und andere Erkrankungen mit speziellem Behandlungsbedarf sollten in spezialisierten Zenten behandelt werden, auch um Langzeitschäden zu vermeiden.
Über den Gesprächspartner
- Stefan Schwartze wurde 1974 in Bad Oeynhausen geboren. Der Industriemechaniker trat 1994 in die SPD ein und ist seit 2014 Vorsitzender der SPD Region Ostwestfalen. Seit Oktober 2009 ist er Mitglied des Bundestags, seit Januar 2022 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten.
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