Mehr als drei Wochen nach der Bundestagswahl haben sich CDU/CSU, FDP und Grüne zu Sondierungsgesprächen für eine Jamaika-Koalition getroffen. Wohl noch nie waren die programmatischen Unterschiede der möglichen Partner so groß. Wo müssten die Parteien inhaltliche Gräben überbrücken? Und wo sind Kompromisse möglich? Ein Überblick.

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Wo es schwierig wird:

Soziales

Die Gegensätze bei Gesundheit, Rente und Arbeit sind groß. Die Grünen wollen etwa die Bürgerversicherung einführen – also ein System, bei dem alle Bürger in die gesetzliche Krankenversicherung eingebunden sind.

Für die FDP ist das undenkbar, die Liberalen setzen auf mehr Eigenverantwortung. Auch den Renteneintritt will die FDP flexibler gestalten.

Ein weiterer Konflikt lauert beim Thema Arbeitsmarkt: Die FDP spricht sich für mehr Deregulierung aus, die Grünen dagegen wollen gegen Leiharbeit oder Lohndumping vorgehen.

Steuern

Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen zu entlasten – das wäre wohl mit allen Partnern zu machen. Trotzdem gibt es auch bei diesem Thema Konfliktpotenzial: Die Grünen wollen Spitzenverdiener stärker besteuern, die FDP lehnt das entschieden ab.

Auf die von den Liberalen geforderte Abschaffung des Solidaritätszuschlags können sich die Unterhändler wohl schon eher einigen. Allerdings kann sie auch das vor Probleme stellen, erklärt Tim Spier, Junior-Professor für Politikwissenschaft an der Universität Siegen, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Denn das Ende des "Solis" würde ein Loch in den Haushalt reißen – die Parteien wollen aber in vielen Bereichen mehr investieren. "Wenn man die fehlenden Einnahmen nicht über Steuererhöhungen ausgleichen kann, wird es schwierig", sagt Spier.

Asylpolitik

Auch hier liegen die Vorstellungen weit auseinander. Die Grünen sprechen sich für den Nachzug der Familien von Geflüchteten aus und lehnen es ab, weitere Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären.

Die CSU drängt in eine völlig andere Richtung. Der hohe Stimmenanteil der AfD in Bayern hat bei vielen Christsozialen den Wunsch geweckt, in der Asylpolitik einen strengeren Kurs zu fahren. Wie gerade CSU und Grüne bei diesem Thema ihre Gegensätze überbrücken sollen, ist offen.

Innere Sicherheit

Hier sieht die Lage ähnlich aus: CDU und vor allem CSU wollen sich mit einer harten Linie profilieren. Im Kampf gegen Terroristen wollen die Unionsparteien zum Beispiel die Vorratsdatenspeicherung wieder anwenden, FDP und Grüne würden sie dagegen aus Datenschutzgründen lieber ganz abschaffen.

Klimaschutz

Der FDP-Politiker Michael Theurer, der mitverhandeln wird, sagt laut "Süddeutscher Zeitung", eine enge Verzahnung von Ökologie und Ökonomie könnte "das verbindende Element" einer Jamaika-Koalition werden.

Politikwissenschaftler Spier dagegen erwartet bei Umweltthemen besonders große Probleme. Denn die FDP lehne zahlreiche Forderungen der Grünen ab – etwa ein Ende der Kohlekraftwerke oder des Verbrennungsmotors.

"Die Grünen werden aber mindestens ein großes Umweltthema umsetzen müssen, um ihre Basis von einer Jamaika-Koalition überzeugen zu können", sagt Spier.

Wo eine Einigung möglich ist:

Einwanderungsgesetz

Sowohl die FDP als auch die Grünen wollen es Menschen aus anderen Ländern ermöglichen, legal nach Deutschland zu kommen. Ein Einwanderungsgesetz könnte ein wichtiges Gemeinschaftsprojekt für Liberale und Grüne sein.

Davon müssten sie aber erst CDU und CSU überzeugen - die sprechen sich bisher nur für ein "Fachkräfteeinwanderungsgesetz" aus. Womöglich würden sich die Unionsparteien aber überzeugen lassen.

Und Politikwissenschaftler Tim Spier hält auch eine Einigung auf einem anderen Weg für möglich: Dass FDP und Grüne nämlich doch auf ein Einwanderungsgesetz verzichten, wenn die CSU im Gegenzug klar die Obergrenze für Flüchtlinge fallen lässt. "FDP und Grüne würden die Verhandlungen daran wahrscheinlich nicht scheitern lassen."

Digitalisierung

Der Breitbandausbau ist eigentlich ein Ziel aller Parteien, darauf könnten sich die Jamaika-Partner wohl schnell einigen. Gesprächsbedarf gäbe es wohl eher beim Thema Geld, meint Tim Spier:

"Beim Breitbandausbau oder auch bei Investitionen in Wissenschaft und Bildung sind wir schnell bei der Frage der Finanzierung. Diese Projekte sind nur möglich, wenn man die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten hat."

Generell glaubt der Politikwissenschaftler, dass die vier beteiligten Parteien ernsthaft verhandeln werden. Wenn Jamaika doch scheitern könnte, dann wohl eher danach – wenn die Politiker nämlich ihre Mitglieder überzeugen müssen.

Vor allem für die Grünen könne das zu einer Herausforderung werden, glaubt Spier: "Wenn die Basis nicht das Gefühl hat, dass es besser ist in der Regierung, kann es bei einem Mitgliederentscheid schwierig werden."

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