Fünf Tage nach der Wahl starten Union und SPD in die ersten Sondierungsgespräche. Für Juso-Chef Philipp Türmer ist klar: Regieren ist kein Selbstzweck.

Ein Interview

Philipp Türmer ist verschnupft. Seit Beginn des Jahres war der Juso-Chef in der Republik unterwegs, um für die Sozialdemokraten zu werben. Während die Umfragewerte sich laufend nach unten korrigierten, standen Türmer und seine Jusos in Fußgängerzonen und auf Marktplätzen herum und versuchten den Wählern ihre SPD schmackhaft zu machen.

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Wenig erfolgreich: Mit 16,41 Prozent fuhr die Kanzler-Partei ein historisch schlechtes Ergebnis ein. Fünf Tage nach der Wahl wirkt Türmer ausgelaugt. Er zeigt sich demütig vor dem Ergebnis – und macht deutlich: Ein Selbstläufer werden die Verhandlungen mit der Union nicht.

Herr Türmer, ist es besser, nicht zu regieren als falsch?

Philipp Türmer: Die letzten Jahre haben dazu geführt, dass Vertrauen verloren gegangen ist. Weil die Menschen den Eindruck gewonnen haben, es geht in Berlin nicht um ihre Sorgen und Nöte, sondern um Machtspielchen. Politik muss sich verändern. In den Sondierungsgesprächen muss jetzt also im Mittelpunkt stehen, was wichtig ist: die Probleme der Menschen im Alltag. Die Bildung einer Koalition ist kein Selbstzweck.

Sehen Sie die Chance auf diese Veränderung bei den Verhandlungen mit der Union?

Es wird extrem schwierig und der Wahlkampf hat das nicht leichter gemacht – insbesondere die Ausfälle von Friedrich Merz auf den letzten Metern. Deswegen ist klar: Die Koalition wird kein Selbstläufer.

Sie haben davon gesprochen, dass mit dem Entschließungsantrag der Union, der mit den Stimmen der AfD zu einer Mehrheit gekommen ist, etwas an der demokratischen Kultur zerbrochen ist. Vertrauen Sie Friedrich Merz?

Aktuell nicht. Dieses Vertrauen muss er erst wiederherstellen. Denn mit den gemeinsamen Abstimmungen mit der AfD hat Friedrich Merz ein Zeichen gesetzt, dass jetzt erst einmal wieder glaubwürdig aus der Welt geschafft werden muss.

Linke sind hier Teil der Lösung und ganz bestimmt nicht Teil des Problems.

Juso-Chef Philipp Türmer

Und zwar?

Man stelle sich nur mal vor, dass sich jetzt CDU-Landesverbände an diesem Vorgehen orientieren und in Landesparlamenten Gesetze gemeinsam mit der AfD verabschieden oder sogar koalieren. Das könnte die Regierung und das Land in eine tiefe Krise stürzen.

Merz hat am Tag vor der Wahl klargemacht: Er will Politik für die Mehrheit der Menschen machen, "die noch alle Tassen im Schrank haben" und nicht für links-grüne "Spinner". Ist das mit der SPD überhaupt möglich?

Diese Erzählung von ihm ist Unsinn. Bei den jungen Menschen haben 48 Prozent für linke Parteien gestimmt. Ich finde es erstaunlich, dass jetzt die sogenannten "linken Spinner" im Fokus der Union stehen und nicht die Sorge vor dem massiven Rechtsruck, den wir im Land erleben. Die Bekämpfung dieses Rechtsrucks sollte jetzt das Ziel aller demokratischer Parteien sein. Linke sind hier Teil der Lösung und ganz bestimmt nicht Teil des Problems.

Auch Philipp Türmer (r.) hat gegen die Abstimmung der Union mit der AfD demonstriert. Wie die Vorsitzenden der Grünen Jugend, Jakob Blasel (l.) und Jette Nietzard (m.), und tausende Menschen bundesweit. © IMAGO//Dominik Butzmann

Jetzt hat die Union in einer kleinen Anfrage 551 Fragen zur Finanzierung von zivilgesellschaftlichen und gemeinnützigen NGOs gestellt. Unter anderem von Organisationen, die bei den Demos für die Demokratie und gegen die gemeinsamen Abstimmungen mit der AfD protestiert haben.

Das hat mich schockiert, auch weil hier offen rechte Erzählungen übernommen wird. Die Zivilgesellschaft ist vielerorts das entscheidende Bollwerk gegen den Rechtsruck und für ein gutes Miteinander, man sollte sie unterstützen, wo es geht und nicht dagegen hetzen.

Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen Union und SPD?

Das müssen die Gespräche zeigen.

Unter Ihrem Vorgänger Kevin Kühnert gab es nach der Wahlpleite 2017 die No-GroKo-Kampagne. Wird es diesmal eine No-KleinKo-Kampagne geben?

Die Ausgangslage ist eine andere als damals. Die Koalition aus Union und SPD ist die einzig mögliche Mehrheit abseits der AfD – also sollte grundsätzlich jeder ein Interesse daran haben, dass die AfD nicht in die Nähe der Regierung kommt. Sollten die Gespräche aber scheitern, etwa wenn es keine Bereitschaft von Seiten der Union gibt, wesentliche Probleme in diesem Land anzupacken, dann wären Neuwahlen zwar herausfordernd. Aber besser als irgendwelche Kompromisse zu finden, die für ein "Weiter so" stehen und an den Alltagssorgen der Menschen vorbeigehen.

Kann es sich die SPD leisten, diese Verhandlungen platzen zu lassen?

Man kann Verhandlungen nur ehrlich führen, wenn sie einen offenen Ausgang haben und kein Einigungszwang besteht.

Carsten Linnemann hat angemerkt, dass ein Scheitern der Verhandlungen zu einem "Scheitern der Mitte des Parlaments" führen würde.Gehen Sie da mit?

Es gibt viele Menschen, die erwarten, dass sich jetzt geeinigt wird – aber genauso viele Menschen, wenn nicht mehr, erwarten grundsätzliche Veränderungen von der Politik. Wenn ein Koalitionsvertrag dafür nicht die Grundlage liefert, dann sollte man es lassen.

Was ist für die Jusos eine rote Linie?

Ein gutes Leben darf kein Luxus sein, sondern muss für alle Menschen bezahlbar sein. Deswegen braucht es einen höheren Mindestlohn von 15 Euro, die breite Masse muss steuerlich entlastet werden und die reichsten der Reichen dafür etwas mehr belastet. Und für uns ist auch völlig klar: Die Asylpolitik, die Friedrich Merz im Wahlkampf gefordert hat, ist rechtswidrig. Es darf nicht dazu kommen, dass die Regierung sehenden Auges Rechtsbruch begeht.

Die SPD wird bei den Koalitionsverhandlungen viele Kröten schlucken müssen – auch, weil das Ergebnis so katastrophal ist.

Die Verhandlungsposition der SPD ist gar nicht so schwach. Aber klar ist auch: Das Ergebnis war schlecht, richtig schlecht. Und deshalb braucht es jetzt nicht nur Floskeln, sondern wir müssen auch handeln, um das Vertrauen der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Angestellten zurückzugewinnen. Da zählen genau unsere Kernanliegen und die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Die dürfen wir in den Verhandlungen nicht aus den Augen verlieren.

Dass man mit sozialen Themen eine Wahl drehen kann, hat die Linke gezeigt. Was hat die SPD falsch gemacht?

Offensichtlich ist es uns überhaupt nicht gelungen, diese Themen in den Mittelpunkt zu stellen. Statt über unsere Antworten auf diese Probleme zu reden, hat man sich gegenseitig bei der Migrationspolitik überboten und versucht den Menschen einzureden, dass die Ampel doch ganz geil war. Diese Strategie ist völlig danebengegangen.

Der Erneuerungsprozess Ihrer Mutterpartei startet mit der Beförderung von Lars Klingbeil und mit Saskia Esken, die ihren Posten behalten will. Gibt es sonst niemanden?

Nein, so ist das nicht.

Der Eindruck entsteht aber.

Ich fand es auch nicht gut, dass Lars Klingbeil noch in der Nacht der gescheiterten Wahl den Fraktionsvorsitz übernommen hat. Um die inhaltliche, programmatische Neuaufstellung glaubhaft mit Leben zu füllen, braucht es in der SPD auch eine personelle Neuaufstellung. Das muss nicht von jetzt auf gleich erfolgen – wir können das auch machen, wenn klar ist, wie der Prozess der programmatischen Erneuerung aussehen wird. Wichtig ist aber, dass es passiert. Bisher wirkt doch alles eher wie ein Stühlerücken, da entsteht noch kein Aufbruchsmomentum.

Die SPD muss linke Volkspartei sein. Dafür müssen wir jetzt die Weichen stellen.

Philipp Türmer, Juso-Vorsitzender

Wie könnte diese Erneuerung aussehen?

Wir brauchen eine sozialdemokratische Zukunftserzählung. Im Moment wirkt die SPD wie eine Partei des Status quo. Wir müssen aber das Bedürfnis nach Veränderung befriedigen – und den Menschen zeigen, wo das Land mit unserer Politik in 20 oder 30 Jahren stehen könnte. Was uns helfen könnte, wäre ein Grundsatzprogramm-Prozess. Auch damit wir als Partei wieder mehr eine gemeinsame, klare Vorstellung davon haben.

Sie sprechen von einer Status-quo-Partei. Mit Blick auf die Deutschlandkarte, die sich in Schwarz und Blau – in die zwei großen neuen Volksparteien – teilt, stellt sich die Frage: Ist die SPD mittlerweile eine Nischenpartei?

Den Eindruck könnte man bei diesen Wahlen gewinnen und das ist richtig schmerzhaft. Das darf aber nicht so bleiben: Die SPD muss linke Volkspartei sein. Dafür müssen wir jetzt die Weichen stellen.

Mit der Doppelfunktion von Lars Klingbeil, der der Strömung des Seeheimer Kreises angehört, dürfte die SPD eher konservativer werden.

Die SPD besteht nicht nur aus Lars Klingbeil. Auch wenn ich nach den letzten Tagen verstehe, dass Sie diesen Eindruck haben. Aber klar ist: Um in Zukunft wieder Wahlen zu gewinnen, muss die Basis der SPD als linke Volkspartei immer die Anbindung an die Arbeiterinnen und Arbeiter, sowie die Angestellten schaffen. Die Menschen müssen wieder den Eindruck bekommen, dass wir ihre Interessen und Lebensrealitäten kennen, ihre Probleme wahrnehmen – und natürlich auch lösen.

Zur Person

  • Philipp Türmer ist seit November 2023 Vorsitzender der SPD-nahen Jugendorganisation Jusos. Er ist der Nachfolger von Jessica Rosenthal (2021-2023) und Kevin Kühnert (2017-2021). Türmer ist studierter Jurist und schreibt aktuell seine Doktorarbeit. Er stammt aus Offenbach und trat 2012 in die SPD ein.